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Bischof Hilarion von Wien
Statement für die Podiumsdiskussion
am 22. Februar 2005 in Berlin
bei der Konrad-Adenauer-Stiftung

 

In meinem kurzen Statement nehme ich Bezug auf das Dokument "Grundlagen der sozialen Konzeption der Russischen Orthodoxen Kirche", das im Jahr 2000 vom Moskauer Bischofskonzil verabschiedet wurde. Weder die politische noch die ökumenische Bedeutung dieses Dokuments sind bisher angemessen gewürdigt worden. Beide Aspekte sind grundgelegt in dem Einleitungskapitel, das die soziale Wirklichkeit im Licht der Kirche deutet: "Die Kirche ist die Versammlung der an Christus Glaubenden, in die einzutreten jeder von Ihm Selbst gerufen ist. In ihr soll ‘alles Himmlische und Irdische’ in Christus vereinigt werden, denn Er ist das Haupt ‘der Kirche, die Sein Leib ist, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt’ (Eph 1, 22-23). In der Kirche vollzieht sich die Vergöttlichung der Schöpfung durch das Wirken des Heiligen Geistes, in ihr wird der ursprüngliche Ratschluss Gottes über die Welt und den Menschen verwirklicht" (I.1) - so die ersten Sätze des Moskauer Dokuments.

In dieser Berufung und Sendung liegt bereits die politische Bedeutung der Kirche, nicht erst in einzelnen politischen Handlungen. Die Unterscheidung der Kirche vom Staat und ihre Freiheit gegenüber den politischen Instanzen ist daher Bedingung für die Erfüllung ihres Auftrags. In westlichen Medien ist oftmals die Rede davon, dass die Russische Orthodoxe Kirche bestrebt sei, die Rolle einer Staatskirche einzunehmen und so die byzantinische Tradition der Einheit von Kirche und Staat weiterzuführen. Zahlreiche Erklärungen des Patriarchen Aleksij II., der Heiligen Synode und führender Würdenträger der Kirche sowie das Dokument "Grundlagen der sozialen Konzeption" zeugen davon, dass dieser Verdacht unbegründet ist.

Das Moskauer Konzilsdokument formuliert klar: "Die Kirche wahrt die Loyalität gegenüber dem Staat, doch höher als die Forderung der Loyalität steht das Göttliche Gebot, das Werk der Errettung der Menschen unter jeglichen Bedingungen und Umständen zu vollenden". Und weiter: "Wenn die Staatsmacht die orthodoxen Gläubigen zur Abkehr von Christus und seiner Kirche sowie zu sündigen und schändlichen Taten zwingt, ist die Kirche verpflichtet, dem Staat den Gehorsam zu verweigern" (III.5).

Gerade der Punkt des zivilen Ungehorsams gehört unabdingbar zum Selbstbewusstsein der Orthodoxen Kirche. Die "Grundlagen der sozialen Konzeption" sind jedoch meines Wissens weltweit das erste Dokument in der Geschichte der Orthodoxie, das eine offizielle Erklärung über den zivilen Ungehorsam abgibt. Es verdiente in dieser Hinsicht geradezu den Titel Rerum novarum! Einige kritische Stimmen aus politischen Kreisen über die Aussagen zum zivilen Ungehorsam bestätigen die Verwunderung über die innere Unabhängigkeit der Kirche.

Die Russische Orthodoxe Kirche ist in den ekklesiologischen Fundamenten der Soziallehre weitgehend einig mit der Katholischen Kirche. Das zeigt das "Kompendium der Soziallehre der Kirche", das im vergangenen Jahr vom Päpstlichen Rat Justitia et Pax veröffentlicht wurde. Auch hier wird entschieden betont: "Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind selbständig und voneinander unabhängig" (Nr. 50). Auch hier wird das Recht zum zivilen Ungehorsam proklamiert, wenn die zivile Autorität in Widerspruch zur moralischen Ordnung, zu den Menschenrechten und zum Evangelium tritt (Nr. 399). Allerdings steht im Kompendium die menschliche Person als "Fundament und Ziel des politischen Lebens" (Nr. 384) im Zentrum. Der "integrale und solidarische Humanismus" (Einleitung) des Kompendiums ist nicht immer vermittelt mit den ekklesiologischen Aussagen. Die Kirche bleibt eher Mater et Magistra, Lehrerin der sozialen Ordnung, nicht Ort ihrer sakramentalen Verwirklichung. An dieser Stelle könnte das weitere ökumenische Gespräch ansetzen.