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Dr. Andreas Renz
"Die Kirchen und der Islam in Europa"

 

1. Islam und Muslime in Europa heute

Wohl noch nie war der Islam so lange und so intensiv Thema in der Tagespolitik, in den Medien, in den Kirchen und privaten Gesprächen wie seit dem 11. September 2001. Kopftücher und Moscheebauten wurden und werden plötzlich im Licht dieser Ereignisse gesehen. Mit einem Mal ist uns bewusst geworden, dass Menschen muslimischen Glaubens und damit eben auch der Islam seit Jahrzehnten, vor allem durch die Arbeitsmigration zu einem dauerhaften Bestandteil unserer europäischen Gesellschaften geworden sind. Diese Tatsache wurde so lange nicht wahrgenommen, so lange die Muslime in ihren sog. Hinterhofmoscheen, ihren Privatwohnungen und nach außen unauffällig blieben. Solange war es leicht, sich tolerant zu geben, aber war es nicht vielmehr in den meisten Fällen Gleichgültigkeit und wechselseitiges Desinteresse?

Wahrgenommen und für manche oder für viele gar zum Problem wurden die Muslime und der Islam erst, als sie in den letzten ein, zwei Jahrzehnten begannen, sich auch nach außen hin als Muslime zu bekennen und selbstbewusst ihre Rechte einzufordern bzw. ihre Freiheitsräume, die unser Rechtsstaat bietet, auszuloten. Dies geht nicht immer ohne rechtlichen und gesellschaftlichen Konflikt ab, geht es doch immer auch um Status, Macht- und Einflussverteilung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit. Da liegt es nahe, derartige Konflikte im Lichte einer seit jeher bestehenden wesenhaften Auseinandersetzung zwischen dem Islam einerseits und dem Christentum oder dem christlichen Abendland oder dem Westen andererseits zu betrachten. Fundamentalisten auf beiden Seiten stilisieren Auseinandersetzungen dieser Art zu einem gleichsam kosmischen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen hoch.

Angesichts der aktuellen Diskussion, gerade auch mit Blick auf einen möglichen EU-Beitritt der Türkei und der Frage nach der Identität Europas ("Europa eine Seele geben"), könnte es hilfreich sein, einen Blick auf die Geschichte der Beziehungen beider Religionen auf dem europäischen Kontinent zu werfen, die tatsächlich geprägt sind von zahlreichen Konflikten, aber eben auch von gegenseitiger kulturell geistiger Befruchtung und Symbiose.

2. Islamische Geschichte Europas - europäische Geschichte des Islams

Die Existenz des Islam in Europa ist keineswegs eine neuartige, nur durch moderne Arbeitsmigration verursachte Erscheinung. Die rasche Ausdehnung des islamischen Herrschaftsgebietes in den ersten Jahrzehnten und Jahrhunderten nach dem Tod des Propheten Muhammad (632 n.Chr.) hat diese Religion in Europa im 8. Jh. zunächst auf die Iberische Halbinsel bis nach Südfrankreich vordringen lassen. Diese Gebiete gewannen die Christen durch die sogenannte Reconquista schrittweise und mit dem Fall Granadas im Jahre 1492 endgültig zurück. Doch eben fast acht Jahrhunderte waren die Muslime in Spanien und haben uns bis heute nicht nur bewundernswerte und einzigartige architektonische und künstlerische Zeugnisse hinterlassen, sondern durch einen einmaligen Prozess der Kultur- und Wissensvermittlung bedeutende Teile der griechischen Antike, angereichert durch eigene Weiterentwicklungen an Europa weitergegeben und so auch einen bedeutenden Grundstein für das moderne Europa gelegt. Ein Albertus Magnus etwa, der für diese Stadt Regensburg als Bischof von so großer Bedeutung war, oder sein Schüler Thomas von Aquin waren wesentlich von der islamischen Philosophie der Zeit beeinflusst (Aristotelesrezeption).

Die Jahrhunderte islamischer Herrschaft in Spanien waren freilich nicht durchwegs jenes "Goldene Zeitalter" multikulturellen Zusammenlebens, wie es heute oft in verklärender Weise dargestellt wird. Und doch muss man anerkennen - und dies könnte für unsere heutige Situation in Europa von Bedeutung sein -, dass es neben den durch politisches Machtstreben verursachten Konflikten ein Zusammenleben, eine "convivencia" gegeben hat, die in geistiger, kultureller, wissenschaftlicher Hinsicht Neues hat entstehen lassen.

Leider war dieses Zusammenleben nach der endgültigen Eroberung Spaniens durch katholische Herrscher nicht mehr möglich. Dafür begann im 14./15. Jh. ein neues Zeitalter der Konfrontation, aber wiederum auch der jahrhundertelangen Koexistenz von Christen und Muslimen in Europa, diesmal an der anderen geographischen Flanke: die Osmanen, islamisierte Turkvölker aus Zentralasien, drangen auf dem Balkan vor und eroberten nach der Einnahme Konstantinopels 1453 weite Teile Südosteuropas. Wenn auch das weitere Vordringen der Osmanen nach Mitteleuropa vor Wien (1529 und 1683) gestoppt werden konnte, hatten sich doch im Laufe der Zeit viele Bewohner in Südosteuropa dem Islam angeschlossen, so etwa die Pomaken in Bulgarien, Griechenland und Makedonien, die Albaner und Bosnier, die bis heute mehrheitlich Muslime geblieben sind. Seit vielen Jahrhunderten also gibt es einen bodenständigen Islam in Südosteuropa, heute sind es etwa 8 Mio. Muslime (die Türkei nicht mitgerechnet), dazu kommen etwa weitere 14 Mio. in Westeuropa durch die Arbeitsmigration.

Damit gibt es "sowohl eine islamische Geschichte Europas als auch eine europäische Geschichte des Islam"(1), dessen müssen sich die Europäer bewusst werden. Je mehr Ost- und Südosteuropa im Zuge des europäischen Einigungsprozesses integrativer Teil Gesamteuropas werden, desto mehr wird auch der Islam Bestandteil dieses geeinten Europas: Die europäische Identitätsfindung - Identität ist ja nie etwas Abgeschlossenes, sondern stets ein Prozess - muss somit schon allein aus geschichtlichen Gründen über die Elemente der westlich-christlichen Traditionen und der neuzeitlichen Aufklärung hinaus auch den byzantinischen Osten, und neben den jüdischen auch die islamischen Wurzeln einbeziehen.(2)

3. Herausforderungen für die Kirchen und den Islam in Europa

Die Geschichte der Beziehungen zwischen Christentum und Islam ist ohne Zweifel eine problematische, konfliktreiche. Doch das II. Vatikanische Konzil hat mit seiner "Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen" im Jahr 1965 alle Christen und Muslime ermahnt, die Zwistigkeiten und Feindschaften der Vergangenheit "beiseite zu lassen" und "sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen" (Nostra aetate 3). Diese fast schon prophetisch anmutende Aufforderung und Mahnung der Konzilsväter hat bis heute nichts an ihrer Aktualität, Berechtigung und Notwendigkeit verloren, ja sie erhält ein ganz neues Gewicht in diesen Tagen. Es ist auch nicht nur bei diesem Appell geblieben. Die katholische Kirche führt seit dieser Zeit auf den verschiedensten Ebenen von den Gemeinden vor Ort bis hinauf zum Papst weltweit diesen Dialog. Für sie war ein "Multi-Kulti" - im Sinne eines zwar friedlichen, aber desinteressierten Nebeneinanders - ohnehin kein Ideal: ihr ging es seit dem Konzil um ein Ernstnehmen und eine Wertschätzung des Anderen als Person und um deren Wohl.

In vielen ihrer Einrichtungen wie den Kindergärten haben die Kirchen bis heute zur Integration muslimischer Einwanderer beigetragen: "Das Integrationsengagement der Kirche erwächst aus ihrem Auftrag und Selbstverständnis", schreiben die deutschen Bischöfe in ihrem jüngst veröffentlichten Wort zur "Integration von Migranten".(3) Es erwächst aus dem jesuanischen Gebot der Nächsten- und Fremdenliebe und dieses wiederum steht in der Tradition alttestamentlich-jüdischer Ethik: "Wenn ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen" (Lev 19,33f).

Mit Recht wird in diesen Tagen von vielen Seiten betont, dass Integration die Anerkennung unserer ethisch-rechtlichen Grundwerte seitens der Migranten erfordert. Umgekehrt aber erfordert Integration von Seiten der Mehrheitsgesellschaft, den Migranten die Chance zur gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen: Integration setzt die Herstellung von Chancengleichheit (z.B. in der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt) und Rechtsgleichheit voraus. Es ist ernsthaft zu fragen, ob wir mit unserem gegenwärtigen öffentlichen Diskurs, der die Muslime allzu schnell unter Generalverdacht stellt und sie zum Sicherheitsrisiko erklärt, nicht weiter den Teufelskreis der Ausgrenzung und Abgrenzung fördern.

Die Kirchen sind sich dabei ihrer Aufgabe bewusst: So formuliert die im Jahr 2001 von den europäischen Kirchen unterzeichnete Charta Oecumenica mit ihren Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa in Leitlinie 11: "Die Begegnung zwischen Christen und Muslimen sowie den christlich-islamischen Dialog wollen wir auf allen Ebenen intensivieren". Weiter verpflichten sich die unterzeichnenden Kirchen (Konferenz Europäischer Kirchen und Rat der Europäischen Bischofskonferenzen) "den Muslimen mit Wertschätzung zu begegnen" und "bei gemeinsamen Anliegen mit den Muslimen zusammen zu arbeiten".(4) Der christlich-islamische Dialog ist damit zu einer genuin ökumenischen Aufgabe geworden.

Bereits seit 1987 haben der Rat der Europäischen Bischofskonferenzen und die Konferenz Europäischer Kirchen einen Ausschuss "Islam in Europa" gegründet, um den europäischen Kirchen behilflich zu sein, die zunehmende Anwesenheit von Muslimen in Europa zu reflektieren und dazu pastorale und seelsorgerliche Hilfestellungen zu geben. Dabei werden vor allem und gerade die Kirchen in Osteuropa mit einbezogen, weil sie zum Teil seit Jahrhunderten in einem islamischen Umfeld leben und ihre ganz eigenen Erfahrungen, positiver wie negativer Art, mit dem Islam gemacht haben.

Dann muss man fragen, ob denn auch von muslimischer Seite eine Bereitschaft zum Dialog besteht. Diese Frage ist so differenziert zu beantworten wie die Wirklichkeit des Islams in Europa selbst. Wie bei den Christen gibt es auch hier eine Bandbreite von Vorstellungen und Einstellungen, die von Gleichgültigkeit über Polemik bis hin zur Wertschätzung, Solidarität und Freundschaft reichen. Je mehr es den Kirchen gelingt, den Muslimen deutlich zu machen, dass es ihnen nicht um ein Abwerben von Gläubigen geht, sondern um ihre Sorgen und Nöte, um ein friedliches und konstruktives Zusammenleben, umso mehr öffnen sich die Muslime für diesen Dialog.

Nicht selten aber kann man von muslimischer Seite auch Kritik am Christentum hören, Kritik an der aus ihrer Sicht religiös-moralischen Schwäche der Kirchen in Europa. Die westliche Gesellschaft habe ihre religiöse Basis und Stütze verloren, und das Scheitern der Aufnahme des Gottesbezugs in die Europäische Verfassung, wofür die Kirchen so sehr gekämpft haben, scheint ihnen Recht zu geben. Manche islamische oder eher islamistischen Ideologen sehen deshalb die Chance, dass der Islam diese entstandene Lücke in Zukunft auffüllen könnte, Europa bald ein islamischer Kontinent werden würde. Wie auch immer man zu dieser Prognose stehen mag: Steckt nicht in der islamischen Kritik, die sich übrigens weitgehend mit der Kritik der Ostkirchen am westlichen Christentum deckt, im Kern doch insofern etwas Wahres, als wir in Westeuropa aus der notwendigen Trennung von Kirche und Staat zugleich auch die Trennung von Religion und Politik betrieben haben und betreiben, die Verdrängung des Religiösen ins rein Private? Haben die Europäer vielleicht auch deshalb ein Problem mit dem Islam, weil sie ein grundsätzliches Problem mit der Religion haben? Vielleicht können die Christen in Europa durch die Präsenz der Muslime wieder lernen, selbstbewusster ihre religiösen und moralischen Überzeugungen in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit zu äußern und zu vertreten. Europas Zukunft liegt m.E. zwischen dem christlichen Fundamentalismus protestantisch-nordamerikanischer Prägung einerseits und dem islamischen Fundamentalismus andererseits, nämlich in der kritischen, spannungsreichen Verbindung von Religion und Aufklärung, von Freiheit und Tradition.

Der Islam und die Muslime in Europa und anderswo, müssen umgekehrt erkennen und lernen - und ich denke, dass dieser Erkenntnis- und Lernprozess bereits eingesetzt hat, - welche Chancen die Trennung von Religion und Staat bietet. Hier stellt sich die Frage nach einem sog. "Euro-Islam", von dem seit einigen Jahren immer wieder die Rede und die Forderung ist. Gemeint ist ein europakonformer Islam, ein Islam mit europäischer Prägung und Identität. Ein Islam, der die Grundwerte moderner europäischer Gesellschaften, wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit aktiv bejaht, unterstützt und mitbegründet. Diese Frage stellt sich derzeit vor allem auch im Blick auf einen möglichen EU-Beitritt der Türkei als eines mehrheitlich muslimischen Landes. Sind im Falle der Türkei vor allem hinsichtlich der Durchsetzung der Religionsfreiheit derzeit noch ernste Zweifel angebracht, ob sie bereits EU-tauglich ist, so kann man andererseits von der großen Mehrheit der Muslime in den EU-Ländern davon sprechen, dass sie sich faktisch an die jeweilige rechtliche Grundordnung halten.

Was bislang jedoch noch weitgehend fehlte, aber zunehmend zu beobachten ist, ist die reflexive Verbindung und Fundierung dieser Grundordnung mit dem Islam selbst. Europäische Muslime wie Smail Balic, Bassam Tibi, Tariq Ramadan, Soheib Bensheikh u.a. zeigen in ihren Schriften und Äußerungen, dass eine solche Verbindung möglich ist. Was diese Vordenker vermeiden wollen ist einerseits, dass Muslime in Europa ohne Islam leben, und andererseits, dass sie zwar physisch in Europa, mental aber außerhalb Europas existieren. Der größte zu begehende Fehler unsererseits würde darin bestehen, dem Islam ein unveränderliches Wesen zuzuschreiben, wie z.B. dass der Islam grundsätzlich unvereinbar mit Demokratie sei. Bereits in seiner Geschichte hat der Islam vielfach bewiesen, dass er wandlungsfähig ist und sich neuen Anforderungen und kulturellen Kontexten anpassen kann. Und die tiefe Verwandtschaft des Islam mit Judentum und Christentum, die nicht nur rein religionsgeschichtlicher, sondern auch theologischer Natur ist, bildet die Grundlage dafür, dass der Islam jene geistigen Wandlungsprozesse vollziehen kann, denen auch Judentum und Christentum in der Moderne unterlagen. Hier liegt auch eine wichtige Aufgabe der Kirchen, derartige Reformprozesse im Islam zu unterstützen und nicht nur - wie das Kaninchen auf die Schlange - auf die Gegenbewegung des Fundamentalismus zu starren. Auch die Politik ist gefordert, die liberalen reformbereiten Kräfte im Islam weltweit zu fördern und nicht Regime zu unterstützen, die den Fundamentalismus fördern.

4. Gemeinsame Aufgaben

Ich möchte meine Ausführungen schließen mit einem Ausblick auf mögliche Aufgaben, welche sich christliche Kirchen zusammen mit dem Islam, mit den Muslimen guten Willens in Europa stellen. Christen und Muslime können zusammen handeln, nicht gegen irgend jemand, sondern für die Menschen in Europa und ihr Wohl.

  1. Ein Erstes, was Christen und Muslime zusammen mit Juden und allen Gottgläubigen für ein gegenwärtiges und zukünftiges Europa einbringen können, ist das Wachhalten der Gottesfrage, ja der Gottesverehrung. Es war wiederum das II. Vatikanische Konzil, das in seiner Dogmatischen Konstitution über die Kirche davon sprach, dass die Muslime "mit uns Christen zu dem einen Gott beten" (Lumen gentium 16), d.h. zu demselben Gott, wenn auch auf verschiedene Weise. Juden, Christen und Muslime haben die gemeinsame Überzeugung, dass der Mensch seine endgültige und eigentliche Bestimmung in der Ausrichtung auf den einen Gott, der der Gott aller Menschen ist, findet. Es ist der Gott der Geschichte und deshalb gehört die Erinnerung zum unaufgebbaren Wesen dieser Religionen: die Erinnerung an die eigene Wurzel, die notwendig ist für die Bestimmung der eigenen Identität; die Erinnerung auch an die unzähligen Opfer von Kriegen und Verbrechen, die in Europa leider allzu oft auch im Namen Gottes oder der Religion verübt worden sind. Zur Erinnerung gehört also auch die kritische und selbstkritische Aufarbeitung der Geschichte, um daraus für die Gegenwart und Zukunft des Zusammenlebens von Christen und Muslimen u.a. zu lernen.
  2. Ein Zweites, das mit dem eben Gesagten eng zusammen hängt, ist die Verteidigung der von Gott geschenkten Würde und der daraus resultierenden Rechte jedes Menschen. Die Religionen haben in dieser Hinsicht selbst einen schwierigen Lernprozess vollziehen müssen, ja zum Teil stecken sie noch mitten drin und der Islam hat hier sicher noch die größten Lernschritte vor sich. Und doch ließe sich zeigen, dass die sog. "abrahamitischen Religionen" selbst die Wurzel dessen in sich tragen, was die neuzeitliche Moderne mit der unveräußerlichen Würde jedes Menschen bezeichnet. Die Religionen werden sich an dieser ihnen selbst impliziten Norm messen lassen müssen. Auf dieser Basis nämlich fordern und fördern sie den Schutz des menschlichen Lebens, soziale Gerechtigkeit, den Schutz der Familie, die Bewahrung der Schöpfung. Auf diesen Werten und Idealen steht heute Europa, sie bilden die Kriterien, die nicht zur Diskussion stehen und die Grenzen der Toleranz markieren. Die jüngsten Vorfälle in Holland sind ein bedrückendes Beispiel für die Überschreitung solcher Grenzen von vielen Seiten und den Verlust jeglicher moralischer Maßstäbe: ein durch nichts zu rechtfertigender Ritualmord durch einen religiösen Fanatiker, dem Anschläge auf Moscheen und Kirchen folgten, dem aber auch entwürdigende Beleidigungen von Muslimen und ihrem Glauben vorangingen, die bis zum diffamierenden Exzess gingen und damit das Recht auf freie Meinungsäußerung ad absurdum führten. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Gewalt immer eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte hat und die Täter- und Opferrollen nie ganz eindeutig verteilt sind.
  3. Daran anknüpfend ein Drittes und Letztes: Es geht darum, eben diese Spirale der Ausgrenzung, des Hasses und der Gewalt zu durchbrechen. Die Forderung nach Toleranz alleine genügt hier nicht: Christen und Muslime müssen zur Versöhnung der Religionen, Kulturen und Völker in Europa aktiv beitragen. Die Vielfalt der regionalen, nationalen und kulturellen und religiösen Traditionen in Europa ist unhintergehbar und sie wird durch die Prozesse der Einigung Europas einerseits und der Globalisierung andererseits sogar noch zunehmen. Die Religionsgemeinschaften werden sich daran messen lassen müssen, ob und in wie fern sie diese Vielfalt auch als Reichtum Europas anerkennen und schätzen und auftretende gesellschaftliche Konflikte, die es immer geben wird, friedlich auszutragen und beizulegen helfen. Als ein Beispiel dafür seien hier die "Grünhelme" genannt, ein christlich-muslimischer Friedensdienst, der auf dem Balkan und anderswo z.B. zerstörte Kirchen und Moscheen wieder aufbaut.

Ein islamisches Sprichwort sagt: "Der Mensch ist Feind dessen, was er nicht kennt." Aus diesem Grund gibt es keine Alternative zur Begegnung, Verständigung und Zusammenarbeit zwischen den christlichen Kirchen und dem Islam in Europa.(5)

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Fußnoten

  1. R. Potz, Islam und Europa. Assimilation - Integration - Insertion, in: V. Heuberger (Hg.), Der Islam in Europa, Frankfurt/M. 1999, 45-54, 45.

  2. Vgl. ebd., 53.

  3. Integration fördern - Zusammenleben gestalten: Wort der deutschen Bischöfe zur Integration von Migranten, (Die deutschen Bischöfe 77), Bonn 2004, 17.

  4. KEK/CCEE, Charta Oecumenica. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, hier zit. nach: Ökumenische Rundschau 50 (2001), 506-514, 513.

  5. Vgl. dazu A.Renz/S. Leimgruber, Christen und Muslime. Was sie verbindet - was sie unterscheidet. München 2004.