OKI-Logo Die Legende vom Schisma
zwischen Ost und West
im Jahr 1054


In seinen Publikationen kommt, als ein ceterum censeo im besten Sinn,
die Überwindung allzu lang überlieferter Geschichtsmythen zur Sprache
(wie beispielsweise der Mythos vom einem
angeblich großen Schisma des Jahres 1054),
die den historischen Geschehnissen nicht gerecht werden,
aber in den Köpfen und Herzen der Menschen festgefahren sind
und das Verhältnis der Kirchen bis heute belasten.

Kardinal Franz König über Ernst Christoph Suttner *1933

 

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auch in italienischer Übersetzung

 

Die Verwicklungen von 1054

Nach Photios gingen die kirchenpolitischen Verwicklungen am Kaiserhof von Byzanz und die internen Spannungen im Konstantinopeler Patriarchat weiter. Immer wieder wurde auch Rom, wo zeitweise am päpstlichen Hof ebenfalls recht wirre Verhältnisse bestanden, in die Auseinandersetzungen einbezogen. Als dann die nach Süditalien expandierenden Normannen sowohl die Interessen des byzantinischen und des ottonischen Reiches als auch jene des päpstlichen Kirchenstaates bedrohten, wurden Allianzen der bedrohten Mächte gesucht. Manche weltliche bzw. kirchliche Persönlichkeit, die einer abweichenden Politik zuneigte, suchte diese hingegen durch Intrigen zu verhindern. Wen wundert es, dass ob der Wirren mit der Zeit in Rom und in Konstantinopel die einen auf die Ansicht verfielen, es bestehe Communio, und andere auf die gegenteilige Ansicht, es bestehe ein Schisma? Gesandte und mehr oder weniger polemische und mitunter auch friedfertige Schriftstücke gingen hin und her.

Zur Zeit des Pontifikats Leos IX. (1048 1054), des byzantinischen Kaisers Konstantinos IX. Monomachos (1042 1054) und des Konstantinopeler Patriarchen Michael Kerullarios (1043 1058) kam es zu intensiveren gegenseitigen Kontakten. Kerullarios versucht es zunächst mit Propaganda. Er beauftragt den Erzbischof von Achrida (Ohrid) mit der Abfassung einer Schrift gegen die Lateiner, die an den Bischof Joannes von Trani adressiert ist, der sie unter den lateinischen Bischöfen verbreiten sollte. Angriffspunkt waren der Gebrauch ungesäuerter Brote (Azymen) in der Liturgie seitens der Lateiner, das Fasten an Samstagen der Fastenzeit und weitere rituelle Differenzen zwischen den beiden Kirchen; vorn Filioque findet sich kein Wort, und Photios steht nicht zur Debatte. Die Schrift fiel in die Hände eines der wichtigsten Ratgeber des Papstes, des Kardinals Humbert von Silva Candida, der an Energie und Rücksichtslosigkeit dem Patriarchen kaum nachstand. Etwa zur selben Zeit schloss Kerullarios die Kirchen der Lateiner in Konstantinopel, mit der Begründung, dass dort in der Liturgie ungesäuerte Brote verwendet würden ... [Nachdem das päpstliche Heer 1053 eine schwere Niederlage gegen die Normannen erlitten hatte, entsandte Argyros, der Oberkommandierende des byzantinischen Kaisers in Süditalien, dem Kerullarios zutiefst misstraute,] Joannes von Trani nach Konstantinopel, offenbar um dem Kaiser neue Vorschläge für ein Zusammengehen mit dem Papst gegen die Normannen zu unterbreiten und den Widerstand des Patriarchen zu unterlaufen. Dem Kaiser musste an einem Fortbestand der Allianz gelegen sein, und so schrieb er an den Papst, dass er nichts so sehr wünsche wie ein Einvernehmen beider Kirchen und dass er ihn um seine Hilfe gegen die Normannen bitte. Das Junktim zwischen Unionsfragen und militärischen Fragen, das sich, wenn auch leise, schon in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts angebahnt hatte, kommt allmählich klar zum Vorschein und wird für alle Zeiten im Verhältnis zwischen Rom und Konstantinopel bestimmend bleiben, somit die Kirchengeschichte mit einem Quidproquo belastend, das nicht mehr auszumerzen ist. Noch gelang es dem Kaiser, auch den Patriarchen zu einem friedfertigen Schreiben an den Papst zu veranlassen. Der Papst befand sich in einer Zwangslage. Einerseits war die Allianz mit dem Kaiser nach wie vor ein Gebot der Stunde, andererseits konnte er die Polemik des Kerullarios nicht auf sich beruhen lassen. So entschloss er sich, eine Gesandtschaft nach dem Osten zu schicken, die mit dem Kaiser zu einem politischen Einvernehmen kommen sollte, gleichzeitig aber den Patriarchen zur Rechenschaft zu ziehen hatte oder doch den Kaiser bewegen sollte, dies von sich aus zu tun. Die Gesandtschaft bestand aus dem erwähnten Kardinal Humbert, aus dem Kanzler der römischen Kirche Friedrich von Lothringen, dem späteren Papst Stephan IX. (1057 1058), und aus dem Erzbischof Petrus von Amalfi. Das Begleitschreiben für den Kaiser schlug eine deutsch-päpstlich-byzantinische Allianz gegen die Normannen vor, forderte allerdings die Rückgabe der Patrimonia St. Petri in Süditalien und die Wiederherstellung der päpstlichen Jurisdiktion über das Illyricum, kehrte also zu den Forderungen der Päpste des 9. Jahrhunderts zurück. Mit dem Patriarchen hoffe er, der Papst, ebenfalls zu einer Verständigung zu kommen.

Doch es kam anders. Im April 1054 trafen die Legaten in Konstantinopel ein. Sie meldeten sich beim Patriarchen, und es kam zu einem mehr als frostigen Empfang. Der Patriarch fühlte sich nicht seinem Rang entsprechend begrüßt, und die Legaten glaubten, ungebührlich aufgenommen worden zu sein. So blieb es bei der Übergabe des päpstlichen Schreibens. Umso herzlicher war der Empfang beim Kaiser, und es scheint, als seien die Verhandlungen über die Allianz sehr rasch vorwärts gekommen. Da der Patriarch nicht geneigt war, sich zum päpstlichen Schreiben zu äußern oder gar Nachgiebigkeit zu zeigen, begann Humbert, die Öffentlichkeit gegen ihn zu mobilisieren. Er operierte mit einer griechischen Übersetzung seiner polemischen Replik auf das Opusculum des Leon von Achrida. Jetzt machte sich ein biederer Studitenmönch, Niketas Stethatos, daran, seinerseits die griechischen Sauerbrote und das Samstagsfasten zu verteidigen. Seine Schrift war theologisch kein Meisterwerk, der Ton jedoch war höflich. Doch jetzt verlor Humbert die Haltung. Er antwortete dem armen Mönch mit einer Polemik üblen Stils: Stethatos scheint ihm nicht aus einem Kloster zu stammen, sondern aus einem Bordell entsprungen zu sein usw. Der Kaiser aber wollte seine Allianz mit Rom nicht gefährden und zwang Niketas zum Widerruf. Er musste sich bei Humbert entschuldigen und seine Schrift den Flammen übergeben. Kerullarios sah nun keinen Grund mehr, sich zurückzuhalten. Zu allem Überfluss brachte Humbert jetzt auch noch das Filioque ins Gespräch, von dem bislang überhaupt nicht die Rede gewesen war. Als er auch damit nicht weiterkam, entschloss er sich zu einem letzten Schritt. Am 16. Juli 1054 betrat er mit seiner Begleitung die Hagia Sophia und legte auf dem Altar eine Bannbulle nieder; dann verließ er die Kirche. Ein Diakon rannte ihm mit der Bulle nach und bat ihn, sie wieder an sich zu nehmen. Aber Humbert weigerte sich, und die Bulle blieb auf der Straße liegen, bis sie jemand aufhob und dem Patriarchen zustellte. Dieser ließ sich den Text übersetzen und reagierte entsprechend. Diese Bulle war eine Ungeheuerlichkeit insofern, als ihr Inhalt von Unkorrektheiten und Unwahrheiten strotzte. Mit dem Anathem belegt wurde Michael Kerullarios, Leon von Achrida, ein Kanzler des Patriarchen, sowie alle ihre Helfer. Dem Patriarchen wird das Recht auf seinen Titel abgesprochen, es wird ihm vorgeworfen, er begünstige die Simonie, befürworte die Kastration, verlange die Wiedertaufe der Lateiner, erlaube die Priesterehe, verweigere rasierten Männern die Kirchengemeinschaft und habe etwas aus dem Credo gestrichen ... Nach diesem Eklat verabschiedeten sich die Legaten vom Kaiser und reisten ab. Inzwischen unterrichtete der Patriarch seinen Kaiser vom Inhalt der Bulle und bewog ihn, die Legaten zurückzurufen: Sie sollten vor einer Synode ihre Anklagen begründen. Ein kaiserlicher Kurier holte sie in Selymbria ein und bewog sie zur Rückkehr. Wenn wir dem Bericht Humberts glauben dürfen, erfuhren sie vor den Toren der Hauptstadt, dass der Patriarch gegen die Beteiligung des Kaisers an der Synode sei. Außerdem fürchteten sie - wiederum nach Humbert -, Kerullarios könnte die Massen gegen sie aufwiegeln. Jedenfalls habe ihnen der Kaiser jetzt selbst empfohlen abzureisen. Doch Kerullarios wollte auf eine synodale Stellungnahme keineswegs verzichten. Schon am 20. Juli, als die Legaten endgültig abgereist waren, warf er in Gegenwart kaiserlicher Beamter den Bann auf die Autoren der Bulle zurück, und am 24. Juli geschah das gleiche auf einer Synode von 16 Metropoliten und fünf Erzbischöfen ... Was die Kirche von Byzanz als Ganzes betrifft, so haben sich Humbert und seine Kollegen gehütet, sie mit dem Bann zu belegen, ja, sie sprachen sogar von dem lebendigen Glauben, den sie in der Hauptstadt vorgefunden hätten. Ebenso wenig belegte Kerullarios den Papst oder die römische Kirche mit dem Bann. Trotzdem kann die Affäre nicht abgetan werden, als handle es sich nur um eine Auseinandersetzung zwischen zwei unbeherrschten Hitzköpfen, die sie waren. Genau wie der Brief Leons von Achrida sakrosankte Riten und Gebräuche der römischen Kirche angriff, griffen die Legaten sakrosanktes Erbe der byzantinischen Kirche an.

Versöhnungsversuche, die misslingen, verursachen in der Regel eine Eskalation der Gegensätze. Dies gilt zweifellos von den Ereignissen des Jahres 1054, zumal hochgestellte Persönlichkeiten beteiligt und von den Anathemata betroffen waren. Was damals geschah, steigerte die Disharmonie, doch ansonsten blieb alles beim alten. Wie früher war man einander weiterhin wenig gewogen, man verdächtigte einander, half einander gelegentlich in bestimmter Hinsicht, stritt dann wieder untereinander, verhandelte zeitweise erneut, betrachtete einander die meiste Zeit als gegenseitig exkommuniziert und strebte dann doch wieder nach einer zumindest eingeschränkten Sakramentengemeinschaft. So war es vor dem Jahr 1054 jahrhundertelang gewesen; so blieb es weiterhin.

Es gilt also festzuhalten: Im Jahr 1054 gab es keine Exkommunikation der lateinischen gegen die griechische Kirche und keine solche der griechischen gegen die lateinische. Nur auf einzelne Persönlichkeiten bezogen sich die Exkommunikationsbullen. Nur den Patriarchen und einige seiner Mitarbeiter exkommunizierten die römischen Legaten, und einige Tage später exkommunizierte der Patriarch nur die Legaten. Erst mehrere Jahrhunderte später hat man angefangen, darin den Anfang eines sogenannten "großen Schismas" sehen zu wollen.

Wegen der übertriebenen Bedeutung, die deswegen den Bullen von 1054 landläufig zugemessen wird, war es gut, dass Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras von Konstantinopel während des 2. Vatikanischen Konzils gemeinsam erklärten, sie möchten diese aus dem Gedächtnis der Kirchen streichen. Sie änderten damit am Schisma zwischen Orthodoxen und Katholiken nichts, aber sie wollten beenden, was in ihrem Jahrhundert das Denken der Menschen vergiftete. Die Tatsache, dass die Trennung der Kirchen durch die "Tilgung der Erinnerung an die Bannflüche von 1054" nicht bereinigt werden konnte, müsste eigentlich jedermann klarmachen, dass sie andere Ursachen hat.

aus: Ernst Christoph Suttner:
Schismen, die von der Kirche trennen
und Schismen, die nicht von ihr trennen.
Fribourg 2003. S. 65-70.

Der Bruch im 18. Jahrhundert

Als 1729 die römische Kongregation für die Glaubensverbreitung jegliche "communicatio in sacris" (d.h. alles gemeinsame Beten, alle gemeinsamen Gottesdienste und jegliches wechselseitiges Anteilgeben und Anteilnehmen an den heiligen Sakramenten) zwischen Gläubigen, die sich zum Papst bekannten, und solchen, die dies nicht taten, verboten hatte, und als die griechischen Patriarchen 1755 in Antwort darauf die lateinischen Christen den Heiden gleichgestellt und sie für ungetauft erklärt hatten, kam im Lauf des 18. Jahrhunderts ein neues Bewusstsein vom wechselseitigen Verhältnis zwischen Griechen und Lateinern auf. Lateiner und Griechen verstehen sich seither nicht mehr als Schwesterkirchen, die sich ergänzten, falls ihre Communio nicht gestört wäre, sondern als zwei einander fremde und voneinander im Glauben getrennte Konfessionen.

Der lateinische Westen gewöhnte sich im Lauf dieser Entwicklung daran, die Kirchen byzantinischer Tradition wie eine Art Protestantismus zu verstehen, der sich irgendwann in der Vorzeit von der ursprünglichen Gemeinsamkeit abgetrennt habe, und man verbohrte sich in die Ansicht, die orthodoxe Welt und der lateinische Westen hätten sich wie Katholiken und Protestanten wegen irgendwann aufgebrochener Meinungsunterschiede in zwei gegensätzliche Ströme geteilt. Orthodoxe Apologeten, welche sich des alten Eigenstands der Traditionen ebenso wenig bewusst blieben wie die westlichen, stimmten im Wesentlichen zu, nur hielten sie die westliche Christenheit für verantwortlich an dem Bruch. Ohne Beachtung der historischen Daten und der Denkweisen der früheren Generationen setzte man willkürlich auch ein Datum fest, zu dem dies geschehen sein soll. So wurde der unglückselige Mythos von einem sogenannten "großen Schisma" geboren.

Der Mythos von einem sogenannten "großen Schisma" als Hindernis für das wechselseitige Verstehen zwischen Lateinern und Griechen

  1. Als im 19. Jahrhundert der Mythos vom sogenannten "großen Schisma" geboren war, hielt man sich zunächst für berechtigt, Patriarch Photios für den Schuldigen daran zu halten, und nach dem Vorbild älterer Ketzerbezeichnungen wie Arianer, Nestorianer, Lutheraner oder Kalviner nannte man die Orthodoxen in kirchengeschichtlichen oder konfessionskundlichen Darlegungen des 19. Jahrhunderts gern Photianer. Auch in offiziellen Texten geschah dies, z.B. in einem Hirtenbrief des Pariser Erzbischofs Sibour zur Zeit des Krimkriegs oder noch 1933 im Vorwort einer von der römischen Kurie veröffentlichten Liste der katholischen Titularbistümer. Nachdem die Kirchengeschichtsforschung jedoch bekannt gemacht hatte, dass Photios in seiner zweiten Amtszeit und bis an das Lebensende mit dem Papst in Communio stand, musste davon abgerückt werden. Weil man also Photios nicht mehr zum Sündenbock nehmen konnte, entschloss man sich, die Ereignisse des Jahres 1054 - ohne Beachtung der vielen Schismen, die es vorher gegeben hatte, und der zahlreichen Fakten von Gemeinsamkeit nachher - zum angeblichen "Anfangsdatum" und Patriarch Michael Kerullarios sowie Kardinal Humbert zu den "Schuldigen" zu erklären.
  2. Wie eingangs bereits zitiert ist, zeigt das Ökumenismusdekret des 2. Vatikanischen Konzils auf, dass wegen der Verschiedenheit der Mentalitäten und Lebensweisen bei den zum Heil berufenen Menschen das Samenkorn des Wortes Gottes von Anfang an verschieden aufgenommen wurde und vielgestaltige Formen von kirchlichem Leben heranwachsen ließ. Ferner legt es dar, dass die Kirchengeschichte zweierlei Arten von Spaltungen kennt: die eine Art ereignete sich, nachdem wegen des Geringer-Werdens von Verständnis und Liebe füreinander das wechselseitige Sich-Anerkennen zwischen den unabhängig voneinander herangewachsenen Traditionsströmen verdrängt wurde durch gegenseitiges Sich-Verurteilen; zur anderen Art kam es, weil sich irgendwann innerhalb eines Traditionsstroms schwere Widersprüche ergaben, die dazu führten, dass der Strom sich in zerstrittene Teile spaltete.
    Die deutlichen Ausführungen über die Verschiedenheit der Spaltungen werden aber vielfach noch immer übergangen. Denn es macht weniger Mühe, Geschehnisse in der Ferne nach dem Modell näher liegender Vorgänge zu interpretieren, als sich in die Ereignisse und Denkstrukturen weniger bekannter Welten hineinzutasten. Im deutschen Sprachraum unterlässt man es in der Regel, die Eigenart der ostkirchlichen Traditionsströme genauer zu studieren, und macht statt dessen die innerabendländische Spaltung in Katholiken und Protestanten schlichtweg zum Modell für das Interpretieren aller sonstigen Kirchenspaltungen. Dabei übergeht man den Umstand, dass zwischen Ost und West nie ein eben solcher Gleichklang bestand, wie ihn das vorreformatorische Abendland kannte; statt dessen wird, wie z.B. neuerdings in der Neuauflage des Herder-Atlasses zur Kirchengeschichte von 1987, postuliert, dass bis zu jenem Zeitpunkt, den man "das große Schisma" nennt, Lateiner und Griechen ebenso einen gemeinsamen Stamm gebildet hätten wie bis zur Reformation die Kirche des Abendlandes.
  3. Verschiedene Krankheiten kann der Arzt nicht durch dieselben Medikamente heilen. Ebenso wäre es ein Unding, sich bei der Suche nach dem sichtbaren Ausdruck für die Einheit zwischen den Christen östlicher und westlicher Tradition jener Verfahrensweisen bedienen zu wollen, die beim katholisch-protestantischen Dialog die richtigen sind.
    In der lateinischen Welt folgte auf eine mehr als tausendjährige Gemeinsamkeit des kirchlichen Lebens wegen bestimmter Widersprüche, welche die innerabendländischen Schismen zur Folge hatten, eine nicht einmal halb so lange Periode der Verästelung. Nun gilt es, das Zusammenfinden wieder zu erstreben, indem die gegenwärtigen Teile der Kirche des Abendlandes einander wieder näher gebracht werden durch eine "Versöhnung der Verschiedenheiten". In ihrer erneuerten Einheit mögen sie dann einander auf Grund der Akzentuierungen, die sie im konfessionellen Streit erlangten, manche bessere Einsicht in bestimmte Einzelaspekte der ihnen gemeinsamen römisch-lateinischen Tradition vermitteln.
    Da hingegen nicht Widersprüche, sondern das Geringer-Werden des Verständnisses und der Liebe füreinander für die Schismen zwischen den von jeher verschiedenen östlichen und westlichen Kirchen Anlass gaben, lassen sich diese Kirchen nicht durch "Versöhnung der Verschiedenheiten" aufeinander zuführen; bei ihnen bedarf es des Wiederbelebens der ursprünglichen "Anerkennung der Verschiedenheit". Damit weiterhin die Katholizität und die Apostolizität der Kirche gewahrt werde, müssen ihre Frömmigkeits- und Erkenntnisentwürfe in voller Verschiedenheit erhalten bleiben, und ihr Nebeneinander soll der Gesamtkirche weiterhin zur "reicheren Erkenntnis" verhelfen. Wird dies in Hinkunft nicht viel entschlossener als bislang beachtet, bleiben die Schismen zwischen Ost und West weiter bestehen.
  4. Zum Abschluss sei noch vermerkt, dass hier die historische Beweisführung zwar nur für das Verhältnis zwischen Griechen und Lateinern vorgelegt wurde; mutatis mutandis gilt das Dargelegte aber für das Verhältnis zu den Altorientalen ebenfalls.

aus: Ernst Christoph Suttner:
Kirche in einer
zueinander rückenden Welt.
Würzburg 2003