OKI-Logo Der Mythos von einem angeblichen Schisma 1054

 

Vortrag in Lilienthal
am 7. Oktober 2006

1. Blick: In allen Büchern, leider auch noch in den meisten ganz neuen, steht tatsächlich, dass die östlichen Kirchen und die westlichen Kirchen seit fast tausend Jahren getrennt sind - ein Mythos, der natürlich die Gemeinschaft zwischen den östlichen Kirchen und den westlichen Kirchen gewaltig heute stört - wenn man angeblich schon 1.000 Jahre getrennt ist…

Seit wann sind Ost und West getrennt?

Seit zweitausend Jahren. Seit den allerersten Jahren der Christenheit. Seit dem irdischen Wirken unseres Herrn Jesus Christus. Ein wichtiges Wort dazu im Konzilsdekret 1964 über die Einheit der Christen im Jubiläumsjahr "40 Jahre unitatis redintegratio": "Das von den Aposteln überkommene Erbe ist in verschiedenen Formen und auf verschiedene Weise übernommen, und daher schon von Anfang an in der Kirche hier und dort verschieden ausgelegt worden"

Das Christentum hat sich in Ost und West völlig verschieden entwickelt. Das führte dazu, dass immer wieder Ost und West im Schisma lebten, sich gegenseitig exkommunizierten, weil man meinte, das, was der andere anders macht, sei falsch. Aber alle in Ost und West hielten daran fest: wir sind die eine allgemeine Kirche - und da man griechisch sprach, sagte man nicht "allgemeine" Kirche sondern "katholische" Kirche. Je weiter die Kirchengeschichte fortschreitet, desto weniger Verständnis zeigt man für die Andersartigkeit des anderen. Diese Einheitsfunktion hatte Rom am Tiber in den ersten dreihundert Jahren des Christentums. Im Osterfeststreit z.B. am Ende des zweiten Jahrhunderts wandten sich östliche Kirchen an Papst Viktor in Rom: sollen wir am 14. Nisan feiern oder am Sonntag nach dem Vollmond? Rom hatte schöpferische Sorge (lat: "Autorität") für die Einheit aller.

Schon im ersten Jahrtausend gab es für diese schöpferische Sorge ein Zweites Rom: die neue Hauptstadt des römischen Reiches, seit dem 11. Mai 330 am Bosporus. (395 Reichsteilung - aber im Westen nicht lange Rom als Hauptort…) In Rom am Bosporus residierte der "Stellvertreter Christi", der Kaiser, der für die Kircheneinheit sorgte (bis heute unterschreibt z.B. beim Militär der Stellvertreter mit rotem Stift, allerdings beachten, dass im modernen Deutsch das Wort eine völlig andere Bedeutung hat: heute vertritt der Stellvertreter einen nicht anwesenden, im kirchlichen Gebrauch markiert er die Stelle des Anwesenden Christus). Uns ist wenig bewusst, dass diese Stadt am Bosporus Rom heisst, weil unsere Kulturhistoriker sich entschlossen haben, Byzanz zu sagen, um Verwirrung und Verwechslung zu vermeiden. Und kirchlich sagen wir im Westen aus gleichem Grund statt Rom am Bosporus lieber Konstantinopel.

Weil der Kaiser der oberste Kirchenführer ist, spalten sich viele große Kirchen ab, die unter anderen Herrschern stehen, z.B. die Armenier unter dem persischen Schah, die Kopten in Ägypten, die Syrer. Es ist auch unser lockerer Umgang mit der Sprache, dass wir von "der einen Kirche des 1. Jahrtausends" sprechen.

Rom am Bosporus wäre richtig. So sagen heute noch alle, die türkisch oder arabisch oder syrisch oder armenisch usw. sprechen: sie sprechen vom Römischen Patriarchen, wo wir Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel sagen, sie sagen Rum Patrik, Rum kilisesi. Gerade jetzt schickte mir ein Pfarrer einen Taufschein, den er für eine Eheschließung aus Syrien bekommen hatte. Der Taufschein ist arabisch mit einer beglaubigten deutschen Übersetzung. Der Pfarrer war verwirrt: angeblich soll der Getaufte orthodox sein, aber auf dem Taufschein steht: getauft in der römisch-orthodoxen Kirche… rum ortodoks.

Die griechisch sprechenden Einwohner İstanbuls - es sind nicht mehr viele, seit Venizelos einen Krieg entfachte, um sie zum Umzug in sein neues Griechenland zu bewegen, in dem keine Griechen wohnten - diese griechisch sprechenden Einwohner nennen sich selbst Römer. Ich hatte dazu vor einigen Jahren ein klärendes Erlebnis. Mit Prälat Rauch gingen wir einen anderen Weg zu Fuß zurück vom armenischen Patriarchat in İstanbul zum Ökumenischen Patriarchat. Wir sahen zwischen den Häusern halb verborgen eine griechische Kirche, die wir noch nicht kannten, stiegen die Treppe hinauf, ein freundlicher Mann fragte uns griechisch, ob er uns die Kirche öffnen solle, nachher kamen wir ins Gespräch auf griechisch, und wir fragten ihn, ob er selbst ein Grieche sei. "Nein", erwiderte er fast empört. "Ich bin ein Römer, die Griechen leben in Griechenland. Ach diese Griechen… wollen Sie wissen, was diese Griechen in Griechenland sind? Das sind Türken, die glauben, sie seien Italiener!"

Übrigens blieb ja auch der Name der Stadt griechisch: İstanbul ist im türkischen Mund geworden aus eis te poli, in der Stadt. Diese Stadt am Bosporus musste natürlich von 330 an Rom heißen, weil von ihr aus die Einheit der Christenheit durch den Kaiser gefördert wurde, durch den Stellvertreter Christi.

Wer ist der Stellvertreter Christi?

Rom am Tiber hatte seine Autorität von den Apostelfürsten Petrus und Paulus, Rom am Bosporus vom Kaiser. Der Kaiser berief die Konzilien ein, der Kaiser sorgte für die Durchführung der Beschlüsse. Mit ihm sorgten die fünf Bischöfe der fünf berühmten Städte für die Einheit, in einer Pentarchie von Rom am Tiber, Rom am Bosporus, Antiochien, Alexandrien und schließlich auch wieder Jerusalem. In den ersten drei Vierteln der zweitausendjährigen Kirchengeschichte gibt es schon ein erstes und ein zweites Rom in der Sorge für die Einheit der Christen. Im Rom am Bosporus ist dafür ein starkes Symbol der Doppeladler.

Trotz dieser Zweiteilung schon im Römischen Reich, trotz der Wahl eines zweiten Stellvertreters Christi im Jahre 800 Karl der Große in Rom (Gregor II, der sich dagegen stemmte, 799 Leo III. in Paderborn aber doch). bis vor etwa zweihundert Jahren taten z.B. die lateinischen Ordensleute mit hoher Bildung, die Jesuiten, Franziskaner, Dominikaner, in den östlichen Bistümern genau so Dienst wie in den westlichen, als Seminardirektoren, als Beichtväter, als Domprediger, als Professoren.

Ein geraffter Überblick zu bezeichnenden Momenten der Kirchengeschichte soll im folgenden deutlich machen, dass sich die großen Konzilien bis einschließlich des Tridentinums dieser Tendenz widersetzten. Sie wurden jedoch zu wenig gehört.

Die langen Diskussionen der Konzilsväter waren aber ausschließlich im geschlossenen Kreis erfolgt. Bedauerlicherweise hatten die Konzilsteilnehmer nicht bedacht, dass die Aussöhnung zwischen ihren Kommunitäten die beiderseitige öffentliche und kommunitäre Annahme jener Einigung voraussetzt, die im Sitzungssaal beschlossen worden war. Sie bedachten nicht, dass seit dem 7. ökumenischen Konzil ein großer Wandel vor sich gegangen war, weil es keinen Kaiser mehr gab, der über die Kirchen lateinischer und über die Kirchen griechischer Tradition herrschte und durch seine Machtmittel dafür Sorge hätte tragen können, dass die Beschlüsse der ökumenischen Konzilien überall Annahme fanden. Da die Konzilsväter diesen Wandel nicht beachteten, erfassten sie auch nicht, dass es in der neuen historischen Situation nicht mehr wie einst bei den ökumenischen Konzilien des ersten Jahrtausends genügen konnte, Beratungen abzuhalten, Beschlüsse zu fassen und sich für deren Durchsetzung auf den Kaiser zu verlassen. Nunmehr hätten sie selber für die Rezeption der Ergebnisse Sorge tragen müssen. Unter den Gegebenheiten des 15. Jahrhunderts wäre auf beiden Seiten in den Gemeinden ein pastorales Mühen der Hierarchen um breite Zustimmung zu den Resultaten der konziliaren Beratungen notwendig gewesen.

Weil es keine staatliche Hinführung zu ihrer Annahme geben konnte, hätte kirchlicherseits Sorge getragen werden müssen, dass es auf beiden Seiten zu einer besseren und allgemein verbreiteten Kenntnis von den wirklichen Sachverhalten gekommen wäre. Die zahlreichen Vorurteile und die verbreiteten Missverständnisse hätten in Predigt und Katechese bekämpft werden müssen. Zustimmung der Gläubigen hätte gefordert werden müssen zu der besseren Einsicht, die von den Konzilsvätern mühsam erarbeitet worden war, dass Ost und West die eine katholische Kirche sind. Doch die Konzilsväter in Ost und West versäumten es, sich um ein Verbreiten korrekter Kenntnisse bei der Mehrheit von Klerus und Volk zu kümmern. Sie hielten die Dokumente, welche ihre Einsicht in die Einheit der abendländischen und der morgenländischen kirchlichen Tradition zum Ausdruck brachten, und ihren kirchenrechtlich korrekt gefassten Beschluss, die Einheit herbeizuführen, für allein schon ausreichend.

So setzt sich im 18. Jahrhundert im Westen die Angst durch, die Orthodoxen im Osten seinen vielleicht wie die Protestanten. Die Protestanten haben die gleiche westliche Tradition, aber bestreiten, dass die Kirche diese westliche Tradition richtig überliefert hat. Die Protestanten hielten einiges für falsch überliefert, z.B. Heiligenverehrung. Sie hatten also weniger als die Katholiken, nicht anderes. Den Protestanten fehlt einiges. Die Katholiken entdeckten beim Blick in den Osten, dass auch dort etwas fehlt - übersahen aber, dass stattdessen etwas anderes da war. Z.B. entdeckten die Katholiken, dass Eucharistieverehrung fehlt, sahen aber nicht, dass stattdessen Ikonenverehrung lebendig ist. Also fürchtete der Westen, dass der Osten auch die Fülle der Tradition ablehnt wie die Protestanten - und der katholische Westen begann vor etwa zweihundertfünfzig Jahre lang den Osten wie die Protestanten als Konfession zu behandeln - und nicht mehr als Teil der einen allgemeinen Kirche. Ebenso der Osten: er unterschied nicht immer zwischen Protestanten und Katholiken im Westen.

Die alten Patriarchate, nunmehr im Osmanischen Reich, richten nach der Errichtung des Moskauer Patriarchates im Jahre 1589 Nuntiaturen in Moskau ein, die Botschafter sollen die Nöte und Anliegen der Kirchen im Osmanischen Reich dem Zaren vortragen. Bis heute haben sich diese Nuntiaturen erhalten, von Antiochien, von Jerusalem, von Alexandria, aber auch von der bulgarischen Kirche und später von der tschechoslowakischen und von der OCA Orthodox Church in America. In der siebzigjährigen Gefangenschaft der russischen Kirche unter dem Kommunismus blieben sie erhalten und konnten ihrerseits ein wenig der russische Kirche das Leben in der Unterdrückung erleichtern.

Auch heute existieren diese Podvorie weiter, der Vertreter von Antiochien z.B., Bischof Nifon, ist auch gleichzeitig Hilfsbischof für die arabischen orthodoxen Gemeinden hier in Deutschland. Seit 1589 blieb die Kirche von Moskau ihrem Wunsch treu, andere Christen zu unterstützen und für die Einheit zu sorgen, auch in der Zeit, als sogar Rom am Tiber seine universellen (= griech.: Katholischen) Aufgaben vernachlässigte und enge Grenzen zog in den Sorgen mit den Protestanten, die die gemeinsame westliche Tradition der ersten drei Viertel der Kirchengeschichte im Westen in Frage stellten.

1725 erklärte die römische Kongregation für die Glaubensverbreitung, die Propaganda Fidei, dass nur diejenigen die Sakramente empfangen dürfen, die nicht nur im Glauben, sondern auch in der Anerkennung des Papsttums in seiner modernen Ausübung mit Rom geeint seien. Daraufhin bezeichneten die griechischen vier Patriarchen 1755 in Antwort darauf die lateinischen Christen als Heiden und erklärten sie für ungetauft. Lateiner und Griechen verstehen sich seither als Konfessionen.

Die russische Kirche hat 1757 eine positive Sonderstellung eingenommen gegenüber den anderen orthodoxen Ortskirchen, was Ökumene anbelangt, die Anerkennung der anderen Kirchen.

Im Juli 1755 hatten die Patriarchen von Konstantinopel, Alexandrien, Jerusalem in Konstantinopel gemeinsam erklärt: Wir, die wir durch Gottes Erbarmen in der orthodoxen Kirche aufwuchsen, den Kanones der hl. Apostel und Väter gehorchen, nur die eine, unsere heilige, katholische und apostolische Kirche anerkennen, ihre Sakramente, folglich auch die Taufe annehmen, aber die Sakramente der Häretiker als verkehrt ansehen, wir verwerfen die Sakramente der Häretiker in gemeinsamem Beschluss. Wir nehmen die Konvertiten, die zu uns kommen, als Ungetaufte auf.

Moskau "das 3. Rom" schloss sich nicht an, sondern verfügte im Gegenteil 1757, dass weiterhin die Sakramente der westlichen Kirche anzuerkennen seien. So bestätigte der Moskauer Metropolit Filaret Drozdov im 19. Jahrhundert. Filaret wurde am 7. Dezember 1995 in der Kathedrale im Kreml in Moskau heilig gesprochen. Metropolit Sergij bekräftigte 1931 und 1936 die volle Anerkennung der katholischen Sakramente. Die russische orthodoxe Kirche hat am 16.12.1969 die Empfehlungen des 2. Vatikanums zur communicatio in sacris übernommen. Am 26.7.1986 (eine Delegation der DBK war gerade in Moskau, darunter z.B: Bischof Josef Homeyer und Nikolaus Wyrwoll) hat sie diese Empfehlung bekräftigt, aber ausgesetzt mit Rücksicht auf die anderen orthodoxen Kirchen. Erst das Zweite Vatikanische Konzil stellte die alte Anerkennung wieder her, vor vierzig Jahren.

Wo kommt der Mythos her von einem angeblichen Schisma im Jahre 1054? Vom Ordnungsbedürfnis der Wissenschaftler, der moderen Menschen. Für die Protestanten hatte man ein griffiges Datum, z.B für die Lutheraner das Jahr 1517 mit dem angeblichen Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche.

Als im 19. Jahrhundert der Mythos vom sogenannten "großen Schisma" geboren war, hielt man sich zunächst für berechtigt, Patriarch Photios für den Schuldigen daran zu halten, und nach dem Vorbild älterer Ketzerbezeichnungen wie Arianer, Nestorianer, Lutheraner oder Kalviner nannte man die Orthodoxen in kirchengeschichtlichen oder konfessionskundlichen Darlegungen des 19. Jahrhunderts gern Photianer (klingt besonders gut im Deutschen!). Auch in offiziellen Texten geschah dies, z. B. in einem Hirtenbrief des Pariser Erzbischofs Sibour zur Zeit des Krimkriegs oder noch 1933 im Vorwort einer von der römischen Kurie veröffentlichten Liste der katholischen Titularbistümer.

Nachdem die Kirchengeschichtsforschung jedoch bekannt gemacht hatte, dass Photios mit dem Papst keineswegs im Schisma verblieb, sondern in seiner zweiten Amtszeit und bis an das Lebensende mit ihm in Communio stand, musste davon abgerückt werden. Weil man also Photios nicht mehr zum Sündenbock nehmen konnte, entschloss man sich, die Ereignisse des Jahres 1054 - ohne Beachtung der vielen Schismen, die es vorher gegeben hatte, und der zahlreichen Fakten von Gemeinsamkeit nachher - zum angeblichen "Anfangsdatum" und Patriarch Michael Kerullarios sowie Kardinal Humbert zu den "Schuldigen" zu erklären.

Im Theologischen Wörterbuch von Michael Buchberger, später Bischof von Regensburg, steht zum ersten Mal das Jahr 1054.

Was war wirklich 1054?

Ein Kardinal und ein Patriarch von Konstantinopel exkommunizierten sich gegenseitig. Man kann nicht feststellen, dass vor 1054 mehr Einheit war oder nach 1054 weniger - im 1. Jahrtausend waren 440 Jahre Schisma, im 2. Jahrtausend ging alles weiter, mit Streit und Wiederversöhnung. Als nach der Jahrtausendwende die Normannen, die Lateiner waren, Süditalien und Sizilien eroberten, anerkannten sie, dass die dortigen Kirchen der Griechen, die sie für "schismatisch" hielten, dieselben heiligen Sakramente feierten wie die normannische Kirche; trotz aller Skepsis gegenüber den fremden kirchlichen Traditionen hielten sie es für angebracht, über Griechen und Normannen gemeinsame Bischöfe amtieren zu lassen, wie z.B. beim hl. Nikolaus in Bari.

Wo ein Grieche als Bischof amtierte, wurde er dem römischen, nicht mehr dem konstantinopolitanischen Patriarchen unterstellt. Damit (und ohne dass ein Wandel im Glaubens- und Frömmigkeitsleben erforderlich gewesen wäre!) galt er als in Einheit getreten mit der Kirche der neuen Landesherren. Auch die Lateiner, die es auf seinem Territorium gab, galten dann als Gläubige seiner griechischen Diözese. Weil es zur damaligen Zeit in Ost und West gebräuchlich war, dass die Herrscher bei Bischofsernennungen entscheidend mitredeten, ist es nicht überraschend, dass in der Folgezeit bei Wiederbesetzungen ober bei Neugründungen von Bistümern, wann immer es möglich war, lateinische Kandidaten zum Zug kamen; denn diese standen den normannischen Fürsten näher als die Griechen. Sie amtierten dann ebenso für Lateiner und Griechen, wie es andernorts die griechischen Bischöfe taten. Bald darauf handelten die Kreuzfahrer ähnlich. Nachdem 1098 Antiochien erobert war, unterstellten sich die Kreuzfahrer zunächst der Jurisdiktion des dortigen griechischen Patriarchen Johannes IV.

Im 19. Jahrhundert hatte sich der Mythos von einem angeblichen Großen Schisma um 900 oder um 1000 so weit in den Köpfen und in den Herzen festgesetzt, dass man es für unmöglich hielt, dass Griechen und Lateiner im 2. Jahrtausend einen gemeinsamen Patriarchen und einen gemeinsamen Bischof hatten.

Deswegen konnte man im 19. Jahrhundert von der "Wiedererrichtung" eines lateinischen Patriarchates von Jerusalem sprechen, das es in Wirklichkeit nie gegeben hatte. Nach 1098 hatte es freilich Lateiner als Patriarchen von Jerusalem gegeben - und auch einen geflüchteten griechischen Gegenpatriarchen, aber immer nur ein Patriarchat von Jerusalem, und das war meistens von einem Griechen besetzt (allerdings nicht in dieser Einschränkung des Begriffes Griechen wie er heute in Jerusalem benutzt wird, wo eigentlich ein Araber der griechische Patriarch sein müsste).

Im Jahre 1215 stellte das 4. Laterankonzil im 4. Kapitel seiner Beschlüsse heraus, dass es manches an der Überlie- ferung der Griechen für problematisch hielt, stimmte aber zu, dass alle Besonderheiten im griechischen kirchlichen Erbe unverändert bleiben können, wenn es unter gemeinsamen Bischöfen zu einer kirchlichen Vereinigung zwischen ihnen und den Lateinern kommt.

Im Lauf der Jahrhunderte wurde dem Urteil über die Verschiedenheit zwischen den lateinischen und den griechischen Kirchen, das Photios und das 4. Laterankonzil vorgelegt hatten, von immer mehr Theologen widersprochen. Darum stellte man im 15. Jahrhundert den Vätern des Florentiner Konzils die Aufgabe, in aller Ausführlichkeit zu prüfen, ob den wechselseitigen Vorwürfen zwischen Griechen und Lateinern echte Glaubensunterschiede zugrunde lägen (das heißt: ob es Gegensätze von solchem Gewicht wären, dass sie den Fortbestand einer Trennung notwendig machen). Als die Bischöfe der Lateiner und der Griechen 1439 zum Konzil von Ferrara Florenz zusammenkamen, waren sie der Meinung, dass ihre Kirchen zueinander im Schisma stehen. Doch dieses Schisma war von solcher Art, dass es sie nicht hinderte, zu einem gemeinsamen ökumenischen Konzil zusammen zu treten und festzustellen: wir sind eine Kirche.

Das Konzil von Trient hat 1545-1563 in ausführlichen Diskussionen peinlich darauf geachtet, die Verwerfung der protestantischen Eheauffassungen so zu formulieren, dass zusammen mit ihr nicht auch die griechische Praxis in der Ehepastoral verurteilt wurde, die sich entschieden von der Ehepastoral der Lateiner unterscheidet. Papst Pius IV., der Papst der dritten Sitzungsperiode von Trient, scheute weder Mühe noch hohe Kosten, um auch Vertreter der schismatischen Kirchen des Ostens nach Trient zu bringen. Die politischen Verhältnisse machten seine Bemühungen erfolglos.

Auch zum ersten Vatikanischen Konzil 1870 lud Papst Pius IX. alle griechischen (orthodoxen) Bischöfe ein. Keiner kam.

Das 2. Vatikanische Konzil erklärte dann vor 50 Jahren, "dass das ganze geistliche und liturgische, disziplinäre und theologische Erbe (der östlichen und der westlichen Kirchen) mit seinen verschiedenen Traditionen zur vollen Katholizität und Apostolizität der Kirche gehört." Diese Einsicht des 2. Vatikanischen Konzils ist ehrlicherweise "Wiederentdeckung" zu nennen, denn nach dem Konzil von Trient war diese Einsicht der Christenheit mehr oder weniger "abhanden gekommen".

Schon in recht früher Zeit verlernten die Christen mehr und mehr, sich durch Fremdes bereichern zu lassen. Sie begannen die Frömmigkeits- und Erkenntnisentwürfe, denen sie selber anhingen, für gottwohlgefälliger einzustufen als alle fremden Entwürfe.

Das 2. Vatikanum sagt 1962 vor vierzig Jahren ganz klar das Gegenteil: "Das von den Aposteln überkommene Erbe ist in verschiedenen Formen und auf verschiedene Weise übernommen, und daher schon von Anfang an in der Kirche hier und dort verschieden ausgelegt worden…" Wenn man die konfessionellen Spannungen der zweihundertfünfzig Jahre bis zum "2. Vatikanischen Konzil" zurückprojiziert auf das Jahr 1054, dann scheint der Graben zum Osten ja unüberwindbar, 950 Jahre! in Wirklichkeit sind es maximal 250 Jahre Trennung, weniger als mit den Protestanten, und im Grunde haben sich die wirklich Frommen in Ost und West auch in diesen 250 Jahren als die eine katholische allgemeine Kirche angesehen - die Russen sogar hochoffiziell. In Rumänien haben sich die griechisch-katholischen und die griechisch-orthodoxen Priester bis 1948 friedlich gegenseitig vertreten und tun es jetzt schon wieder, höre ich. Und Russland hatte die Verurteilung des Westens durch die griechischen Patriarchen 1755 überhaupt nicht mitgemacht. Auf dem 2. Vatikanischen Konzil waren die Bischöfe der östlichen Kirchen zum ersten Mal nicht eingeladen als normale Teilnehmer. Auch sie selbst meinten, nur als Beobachter teilnehmen zu können, und selbst das hat erst Metropolit Nikodim Rotov erreicht 5. September 1978, der schon 1962 entschied, dass die russische orthodoxe Kirche Beobachter entsendet. Die übrigen orthodoxen Kirchen folgten erst bei der zweiten Sitzungsperiode 1963 mit dem Entsenden von Beobachtern. Im 20. Jahrhundert galt dank der Legende von einem Schisma vor tausend Jahren als unvollziehbar, was noch im 16. Jahrhundert beim Konzil von Trient erwünscht war. Die Grenze zwischen Katholiken und Orthodoxen galt zwar auch im 16. Jahrhundert wie heute als Schisma, doch im 16. Jhdt. hielt man sie für weniger undurchlässig, weil man noch nicht dem Irrtum erlegen war, die Grenze bestehe seit 1054…

2. Blick: noch ein rundes Gedenkjahr möchte man uns aufdrängen: 800 Jahre "seit dem unerhörten Überfall der Katholiken auf die Orthodoxen mit der Zerstörung Konstantinopels durch die Kreuzritter im Jahre 1204."

Aber was war damals 1204 wirklich? In jenen Jahren wurde Amalfi durch Genua zerstört, Franz von Assisi wurde im Krieg mit Perugia verwundet, Venedig kämpfte gegen Genua, jede Stadt musste sich mit großen Mauern gegen die Nachbarstadt sichern - und Venedig trug einen Streit mit Genua in Konstantinopel aus, sogar zu Hilfe gerufen durch einen abgesetzten Kaiser.

Der Papst exkommunzierte sofort die ganze angebliche Kreuzfahrerschar und machte klar, dass der Überfall auf Konstantinopel nichts mit dem Kreuzzug zu tun hat. Der Papst soll sich entschuldigen für 1204 - erstens hat er das getan, so wie sich Patriarch Aleksij in Berlin entschuldigt hat für alles, was Russen Deutschen angetan haben. Das sollte Anregung sein, es müsste sich die Stadt Venedig entschuldigen bei der Stadt İstanbul, die Stadt Genua bei der Stadt Amalfi, die Stadt Perugia bei der Stadt Assisi und bei der Familie vom hl. Franz von Assisi. Und jeder von uns bei dem, dem er Leid zugefügt hat.

Der Papst hat die Plünderung Konstantinopels am 4. Mai 2001 in Athen bei seinem offiziellen Besuch bei Erzbischof Christodoulos und der Synode der orthodoxen Kirche in Griechenland so angesprochen, ich zitiere nach dem Information Service des Rates für die Einheit der Christen N. 107 (2001, S. 63): Certainly, we are burdened by past and present controversies… Some memories are especially painful, and some events of the distant past have left deep wounds in the minds and hearts of people to this day. I am thinking of the disastrous sack of the imperial city of Constantinople, which was for so long the bastion of Christianity in the East. It is tragic that the assailants, who had set out to secure free access for Christians to the Holy Land turned against their own brothers in the faith. The fact that they where Latin Christians fills Catholics with deep regret. How can we fail to see here the mysterium iniquitatis at work inthe human heart?

Exkurs in die Gegenwart

Hier drängt sich ein Exkurs in die Gegenwart auf. 1980 eröffneten die katholische und die orthodoxe Kirche einen offiziellen theologischen Dialog, dem sie die nämliche Aufgabe stellten, den das Konzil von Florenz erhalten hatte. Eine gemischte internationale Kommission von Hierarchen und Theologen wurde eingesetzt. Diese hat ihre Arbeiten zwar noch nicht abgeschlossen, mühte sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten aber mit beachtlichem Erfolg um das Zusammentragen der Einsichten beider Seiten in die Ekklesiologie und in die Bedeutung der heiligen Sakramente für das Heil der Menschen. Die von ihr inzwischen erreichten Resultate sind bereits veröffentlicht.

Traurig stimmt, dass sich in beiden Kirchen die Verantwortlichen wenig mühen, dafür bei Klerus und Gläubigen Interesse zu wecken. Falls sich dies nicht ändert, könnte es sein, dass wie in den Tagen des Patriarchen Photios, nach dem 4. Laterankonzil, nach dem Florentinum, nach dem Tridentinum, nach den Beratungen der Synodalen der Kiever Metropolie und nach anderen Vorgängen, die in dem kurzen Beitrag nicht allesamt dargelegt werden können, die Resultate der theologischen Forschung wieder missachtet werden. Dann bahnte sich in den Kirchengemeinschaften betrüblicherweise wegen fortdauernder Unkenntnis von den wahren Verhältnissen ein neuer Fall von Nicht-Rezeption erlangter Einsichten in die Kompatibilität der Traditionsströme an.

Exkurs Ende

Kehren wir zurück zu den historischen Überlegungen. Um die ekklesiologische Beurteilung von Schismen bei Lateinern des Spätmittelalters (und der beginnenden Neuzeit) nachzuvollziehen, gilt es auch zu bedenken, dass die abendländische Kirche, als das Konzil von Florenz ca. 1450 tagte, die Zeit noch nicht endgültig hinter sich hatte, in der sie wegen zweier bzw. dreier Päpste in Schismen gespalten war. Die Papstparteien, zwischen denen keine Communio bestand, wurden - und werden bis heute in den Handbüchern der Kirchengeschichte - miteinander als die eine abendländische Kirche, nicht als voneinander getrennte Kirchen behandelt. Denn es war zwischen ihnen zu keinen doktrinären Verurteilungen gekommen; nur die Kirchenleitung war gebrochen. Um die Lage wieder zu heilen, gab es Gespräche über die Schisma-Grenzen hinweg. Als die Gespräche erfolgreich waren, galten die Gräben als zugeschüttet. Niemand sprach damals oder spricht heute von Konversionen, wenn er vom Ende der Papstschismen berichtet.

Auch in der ostslawischen Christenheit hatte es um die Zeit ein Schisma gegeben, das keine doktrinären Gründe hatte, sondern wegen kanonischer Unregelmäßigkeit in der Kirchenleitung ausgebrochen war. Es hatte begonnen, als man in Moskau 1448 ohne Zustimmung des Konstantinopeler Patriarchen Bischof Iona von Rjazan zum Metropoliten von Kiev und der ganzen Rus’ wählte, beziehungsweise als man 1461 ohne Rückfrage in Konstantinopel dessen Nachfolger den Titel eines Metropoliten von Moskau beilegte und die Kiever Metropolie spaltete. Erst 1589 - also erst nach weit über 100 Jahren - ordnete Patriarch Jeremias die Verhältnisse wieder, indem er der Moskauer Kirche die Zustimmung der Griechen zu der von ihnen einst eigenmächtig in Anspruch genommenen Autokephalie vermittelte. Auch bei dieser Rückkehr zur Kanonizität bedurfte es keiner Konversionen.

Darum ist es seit dem 2. Vatikanum wieder selbstverständlich, dass wir alle Sakramente bei den Orthodoxen empfangen können und sie bei uns, Kardinal Ratzinger greift das auf in DOMINUS IESUS Nr.17, wo er betont, dass die orthodoxen Bistümer genau so echte Teilkirchen sind wie die katholischen Bistümer. Die Orthodoxen haben diese Interkommunion des 2. Vatikanums nicht akzeptiert, mit Ausnahme der russischen orthodoxen Kirche.

War im Mittelalter das Verhältnis zwischen Griechen und Lateinern - abgesehen von der Dauer der Schismen - ein anderes als jenes zwischen den Papstparteien? zwischen den vor 1589 kanonisch gespaltenen ostslawischen Kirchen? oder zwischen den gegenwärtigen orthodoxen Kirchen, die sich zu den panorthodoxen Beratungen versammeln können, und jenen anderen, die dazu nicht befugt sind? Wie die Anhänger der verschiedenen Päpste hatten sich auch Griechen und Lateiner auseinandergelebt. Wie zwischen den Papstparteien und zwischen der kanonischen und der nichtkanonischen Orthodoxie der Gegenwart gab es auch zwischen Lateinern und Griechen nichts, wodurch empirisch erfahrbar geworden wäre, dass ihr Eins-Sein im Heiligen Geist die Entfremdung überdauerte. Aber auch wechselseitige kirchliche Aburteilungen hatte es nicht gegeben. Die Artikulation von Gegnerschaft, zu der es zwischen Griechen und Lateinern oft genug kam, hatte nie amtlichen kirchlichen Charakter; sie war die persönliche Auffassung von Theologen beziehungsweise eine Ablehnung des Fremdartigen am kirchlichen Leben der anderen durch das breite Kirchenvolk. In allen Fällen aber, in denen es zu kirchenamtlichen Untersuchungen gekommen war, hatte sich die Kompatibilität der lateinischen mit den griechischen Traditionen ergeben.

Schluss:

Wie können wir zur Wiederherstellung der kirchlichen Gemeinschaft zwischen Ost und West gelangen? Nach meiner ganz entschiedenen Meinung nicht durch weitere äußere Schritte. Sondern durch unsere innere Einstellung, dass diese Gemeinschaft existiert.

  1. Dadurch, dass wir uns bewusst werden, dass diese kirchliche Gemeinschaft in viel stärkerem Masse existiert als wir es vielleicht vor diesem unserem gemeinsamen Nachdenken dachten.
  2. Patriarch Bartholomaios hat bei seinem Deutschlandbesuch 1993 nicht auf eine angebliche "Eine Kirche des 1. Jahrtausends" hingewiesen, sondern gesagt: die Einheit zwischen Ost und West war noch nie so stark wie jetzt.
  3. Es wäre denkbar, dass die griechischen Patriarchen die Exkommunikation von 1755 feierlich zurücknehmen und sich so der Haltung der russischen Kirche anschließen. In gewisser Weise haben sie es vor einigen Monaten getan, als sie die russische These von der Einen Kirche, in der man nicht ein ukrainisches Patriarchat errichten dürfe, in verblüffender Einigkeit unterstützten.
  4. Dennoch warne ich vor solchen neuen Erklärungen der Gemeinsamkeit. Sie führen immer wieder zu neuen Spaltungen innerhalb der betroffenen Kirchen und Schwesterkirchen.
  5. In Griechenland gibt es z.B. fünf orthodoxe Gegenkirchen, weil die griechische orthodoxe Kirche von Erzbischof Christodulos angeblich zu sehr mit dem Westen paktiert, seit sie vor 80 Jahren 1924 den gregorianischen Kalender übernommen hat.
  6. Die Bischofssynode der russischen Kirche musste sich im Oktober scharf distanzieren von den ultrarechten Bruderschaften, die den Bischöfen und dem Patriarchen vorwerfen, dass sie zuviel Ökumene machen.
  7. Die Pius-Bruderschaft in der Lefebvre-Tradition setzt sich seit dem Konzil von Rom ab, weil Rom den Glauben verraten hat durch die Teilnahme an der Ökumene.
  8. Seit der Lutherische Weltbund und Rom die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre verabschiedet haben, betreiben die lutherischen Kirchen der Missouri-Synode Mission unter den übrigen Lutheranern, und die SELKD hat ihre Mitgliedzahl verdoppelt.
  9. Seit Rom und die Assyrer (Nestorianer) 1996 ihre gemeinsame Erklärung zur Christologie verabschiedet haben und der Papst das in der Enzyklika UT UNUM SINT eigens erwähnt, haben die Orientalischen Kirchen unter Führung der Kopten den gemeinsamen Dialog bei PRO ORIENTE zwischen allen Syrern boykottiert und vor einigen Tagen definitiv beendet. Und mir haben die Kopten mit Sanktionen gedroht, wenn ich die Assyrer nochmal in mein Adressverzeichnis der Orthodoxen Bischöfe ORTHODOXIA aufnehme.
  10. Es geht also darum, dass Sie und wir alle die Gemeinsamkeit zwischen Ost und West leben, uns innerlich und äußerlich wirklich anerkennen. Ich glaube, dass an jedem von uns dann die Menschheit erkennt, dass die Einheit der Christen existiert.

Nikolaus Wyrwoll
[+49] 941 5999863
Anrufbeantworter [+49] 941 52301
Fax [+49] 941 52846,
Mobil [49] 172 8501623, [39] 333 2598840
niko.wy@t-online.de
www.oki-regensburg.de