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beim Goldenen Weihejubiläum
am 24. März 2012,
Sabbato Sitientes
(1)

 

 

"Warum haben wir gefastet – und du hast es nicht gesehen? Haben wir unsere Seele gebeugt und du hast es nicht erkannt?" (Jes 58,3) so fragt das Volk Israel Gott selbst im Buch Jesaja. Dies könnte vielleicht auch unsere Frage sein, nicht nur als einzelne, sondern auch als Kirche. Warum tun wir so viel, und es bleibt ohne Wirkung? Wie oft mühen wir uns ab im kirchlichen Dienst und in den Gemeinden – und sehen so häufig das Ergebnis nicht? Und wo erfahren wir Gott, in dem, was wir tun? Ob wir uns freilich auch die Antwort aus dem Buch Jesaja zu eigen machen wollen, das müssen wir erst einmal sehen. Sie ist eine Erweckungs-, eine Aufrüttelpredigt an das Volk "Soll dies ein Fasten sein, das ich erwähle: ein Tag, an dem der Mensch seine Seele beugt, sein Haupt neigt wie einen Schilfhalm in Sack und Asche sich bettet? Ruft ihr das ein Fasten und einen Tag, an dem der Herr Wohlgefallen hat?" (Jes 58,5)

Der Prophet deckt im Namen Gottes mit drastischen Worten auf, woran es fehlt: Siehe, am Tag eures Fastens findet ihr euer Gefallen und all eure Arbeiter treibt ihr an. Der springende Punkt ist nicht dort, wo er gesucht wird. Was die Leute aus dem Haus Israel unter Fasten verstehen, ist ein Fasten als klassische "Selbstminderung". Man macht sich klein, man geht in Sack und Asche, man verzichtet auf Nahrung. Das ist nicht alles falsch, aber die Prophetenrede deckt auf, was daran nicht stimmig ist: "Siehe, am Tag eures Fastens findet ihr euer Gefallen"

Die da fasten, müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie es um Gottes willen tun, oder doch auch, um sich selbst darin zu gefallen, um mit dem Fasten ihre eigenen Geschäfte zu betreiben, sich selbst darzustellen mit den eigenen Aktionen. Der Prophet will zur Selbsterkenntnis aufrufen, zur Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, zum nüchternen Blick auf das eigen Tun. Für wen handeln wir? Für Gott – oder vielleicht doch auch mehr für uns selbst? Die zweite Erinnerung des Propheten ist noch drastischer. Er erinnert das Volk Israel, aber auch uns, an die anderen Zusammenhänge. "am Tag eures Fastens findet ihr euer Gefallen und all eure Arbeiter treibt ihr an." Das Fasten ist ein schöner Luxus, wenn die anderen, die Untergebenen, arbeiten müssen. Dies ist wohl die Hauptüberlegung des Propheten: eine rechte Fastenpraxis, eine rechte religiöse Praxis ist keine persönliche, individuelle Angelegenheit. Wer religiös handelt, hat nicht allein sich selbst im Blick zu behalten, sondern seine ganze Umgebung, besonders die Menschen, für die er verantwortlich ist. Hier muss Stimmigkeit herrschen. "Siehe, zu Rechtsstreit und Zank fastet ihr, und um zu schlagen mit gottloser Faust Ihr fastet heute nicht so, dass ihr eure Stimme in der Höhe zu Gehör bringt." (Jes 58,4f.) Das Fasten, das als Unterbrechung gedacht ist, unterbricht in Wirklichkeit gar nichts. Der Alltag der Ungerechtigkeit geht weiter, und das Gesetz vom Recht des Stärkeren hat weiterhin seine Geltung. Darum kann das Fasten bei Gott nichts bewegen..

Erst die folgenden beiden Verse eröffnen wieder die Problematik des falschen Verhaltens, indem sie das rechte Verhalten dagegen stellen: "Ist nicht dies ein Fasten, das ich erwähle: gottlose Fesseln zu lösen, Knoten des Joches zu öffnen, Misshandelte freizulassen, und jedes Joch zu zerbrechen? Ist (es) nicht dies: dem Hungernden dein Brot zu brechen, und die heimatlosen Gebeugten bringst du ins Haus? Wenn du einen Nackten siehst, dass du ihn bedeckst? Und deinem Fleisch du dich nicht entziehst?" (Jes 58,6f.) Fasten wird hier ganz neu definiert, und das wird auf der sprachlichen Ebene deutlichgemacht. Es geht um das Leitwort des "Beugens". Zu den Riten des Fastens gehört es, gewissermaßen den Kopf hängen zu lassen, sich selbst klein zu machen vor Gott. Der biblische Ausdruck dafür ist "seine Seele beugen". In der Gottesrede wird jedoch klargemacht, dass hier die falsche Perspektive vorliegt. Während man sich selbst im Fasten – zeitweilig – beugt, gibt es auf Dauer eine Gruppe von Menschen, die immer "gebeugt" sind, und das sind die Armen. Die Armen sind die Gebeugten, diejenigen, die unterdrückt werden, die gebeugt gemacht werden. Rechtes Fasten heißt, sich für sie einzusetzen. An zwei Stellen werden sie erwähnt: "die heimatlosen Gebeugten bringst du ins Haus" und "du sättigst die Seele des Gebeugten". Hier wird das Motiv des Fastens kreativ umgedeutet. Es geht nicht darum, sich selbst zu erniedrigen, sondern die unfreiwillig Erniedrigten zu erhöhen, ihnen das zu geben, was ihnen vom Menschsein her zusteht: Freiheit, Obdach, Nahrung. Das Fasten wird nicht abgeschafft, aber in einen ganz neuen und größeren Zusammenhang hineingestellt. Es geht nicht mehr allein um individuelle oder kollektive Frömmigkeit, sondern um eine Maßnahme der Solidarität mit den Armen, nicht um die Akzentuierung des Gottesverhältnisses allein, sondern darin auch um das Tun der Gerechtigkeit.

"Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird eilends wachsen. Und deine Gerechtigkeit wird vor deinem Angesicht hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird dir nachfolgen. Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten. Du wirst um Hilfe schreien, und er wird sagen: Da bin ich!" (Jes 58,8f.) Fasten heißt nicht zuerst, sich selbst zu beugen, sondern zu verhindern, dass andere Menschen durch mich/durch uns gebeugt werden. Und noch mehr: Es heißt auch, die Gebeugten aufzurichten. Die Erhöhung der Erniedrigten, von der Maria im Magnificat singt, fängt bereits bei Jesaja an. Und es ist nicht allein Gottes Sache und Gottes Anliegen, sondern der Mensch ist dazu aufgefordert, an der Erhöhung des erniedrigten Menschen mitzuarbeiten. Das schließlich führt zu einer Konsequenz des Heiles, die von allein gar nicht im Blick sein konnte. "Du wirst rufen, und der Herr wird antworten". Wenn der gebeugte Mensch im Blick ist, der an den Rand gedrängte, dann hat auch Gott für uns ein offenes Ohr. Dann antwortet er. Und wie er antwortet, das ist erstaunlich. Er sagt: "Hier bin ich". Dieses "Hier bin ich" kommt öfter in der Bibel vor. Gott ruft Abraham am Berg Moria, und der antwortet "Hier bin ich", und Gott ruft den Mose aus dem Brennenden Dornbusch, und dieser antwortet "Hier bin ich". Immer ist es in der Bibel der Höhergestellte, der ruft, und der ihm Unterstellte, der antwortet. Hier bei Jesaja ist es jedoch genau umgekehrt: Gott selbst steht bereit, er stellt sich gewissermaßen zuunterst, um den Ruf des in Bedrängnis Geratenen zu hören. Diese Rollenumkehr spricht von der Demut Gottes. "Hier bin ich. Ich bin da, wo du mich brauchst". Wer in Bedrängnis ist, den behandelt Gott als denjenigen, der das Sagen hat; dessen Wort, dessen Ruf um Hilfe hat Gewicht. Selig die Menschen, die sich an diesem Beispiel orientieren. "Ist nicht dies ein Fasten, das ich erwähle: gottlose Fesseln zu lösen, Knoten des Joches zu öffnen, Misshandelte freizulassen, und jedes Joch zu zerbrechen? Ist (es) nicht dies: dem Hungernden dein Brot zu brechen, und die heimatlosen Gebeugten bringst du ins Haus? Wenn du einen Nackten siehst, dass du ihn bedeckst? Und deinem Fleisch du dich nicht entziehst?" (Jes 58,7f) Wo Menschen nicht sich selbst über andere erheben, sondern andere erheben, dort stellt Gott sich ein und spricht sein "Hier bin ich". Was wir soeben im Evangelium als Frohbotschaft vom Dienen gehört haben, was wir am Gründonnerstag wieder im johanneischen Gleichnis der Fußwaschung lernen werden, das ist die Botschaft von der Demut Gottes, die die gesamte Bibel durchzieht. Und damit sind wir beim Dienst des Diakons. Die Aufgabe des Diakons ist es, diesen grundsätzlichen Zusammenhang, den Jesaja so plastisch dargestellt hat, beständig in Erinnerung zu halten. Besonders wichtig scheint mir zu sein, dass dies ein Amt in der Kirche ist, zu ihrer sichtbaren Gestalt unverzichtbar dazugehört.

Der Blick auf die Armen, die Entrechteten und die wirtschaftliche Gerechtigkeit des Gemeinwesens, die Solidarität der Gläubigen mit allen entwürdigten Menschen, dies ist nicht eine Zugabe zum Glauben, eine sekundäre Folge der Gottesbeziehung, sondern ihr innerstes Wesen. Wenn Gott seine Anwesenheit in der Welt an die Armen bindet und selbst in die Rolle der Demut hineingeht, dann ist das auch der Ort, ihn zu finden. Wer die Armen sucht, wird Gott finden. Das Amt des Diakons ist die Erinnerung an die Kirche, dass sie auf dieses Geheimnis gebaut ist, auf die Umkehrung aller sonst üblichen Verhältnisse von oben und unten. "Gloria in excelsis deo" heißt daher auch, dass Gott in der Tiefe wohnt.

Und Kirche ist vor allem dort Kirche, wo sie diesem Geheimnis vertraut und wo sie selbst versucht, es selbst in ihrem Alltag zu leben. Kirche wird aus diesem Geheimnis jeden Tag aufs Neue erbaut. Das ist Zusage Gottes und Auftrag an uns zugleich. Wir brauchen in den Gemeinden Menschen, Frauen und Männer, die wissen, wo die Armen sind, Frauen und Männer, deren Gottesnähe aus ihrer Nächstennähe gespeist wird. Das diakonische Amt steht für dieses Wissen und dieses Tun. Ich meine, der Diakon am Altar in der Eucharistiefeier ist die fleischgewordene Erinnerung an dieses Geheimnis des Glaubens. Das Geheimnis, in dem Gott sich selbst finden lassen will.

Egbert Ballhorn

  1. "Sabbato Sitientes": Samstag vor dem 5. Sonntag der Quadragesima. Benannt nach dem Introitus: "Sitientes, venite ad aquas, dicit Dominus: et qui non habetis pretium, venite et bibite cum lætitia." (Jes 55,1) Seit der Liturgiereform am Dienstag der 4. Woche.