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Vladimir Solov’ev




Albert Rauch
Regensburg

Gedanken von und über Vladimir Solov’ev

Einige Gedanken aus Band I
der Deutschen Gesamtausgabe

Vorlesungen über das Gottmenschentum (1877 - 1881)

Das Bestreben, die Menschheit außerhalb der absoluten religiösen Sphäre zu organisieren, festen Fuß zu fassen und auf dem Gebiet zeitlicher, endlicher Interessen sich einzurichten, kennzeichnet die gesamte moderne Zivilisation. Dieses Bestreben tritt in zwei modernen Theorien zutage: Sozialismus und Positivismus (S. 539).

Das Ich des Menschen ist absolut in der Möglichkeit und nichtig in der Wirklichkeit. In diesem Widerspruch liegt das Böse und das Leiden, darin liegt die Unfreiheit, die innere Knechtschaft des Menschen. Die Befreiung von dieser Knechtschaft kann nur im Erringen jenes unbedingten Inhalts bestehen, jener Seinsfülle, die sich im unendlichen Streben des menschlichen Ichs manifestiert: "erkennt die Wahrheit und die Wahrheit wird euch freimachen" (Joh 8,32; S. 565) Die alte traditionelle Form der Religion geht vom Glauben an Gott aus, führt ihn aber nicht zu Ende. Die moderne, irreligiöse Zivilisation geht vom Glauben an den Menschen aus, doch sie bleibt auch inkonsequent; konsequent durchgehalten und bis zu Ende verwirklicht, fließen diese Glaubenshaltungen – der Glaube an Gott und der Glaube an den Menschen - in der einen ganzen und vollen Wahrheit des Gottmenschentums zusammen (S. 566).

Wenn das göttliche Prinzip für uns das Ganze sein soll, so müssen wir das, was nicht identisch mit ihm ist, für das Nichts ansehen (s. Buddhismus). Freilich gilt aber auch hier – wenn wir nach Christi Worten "unser Leben verlieren, um es wiederzufinden" (Mt 16,25) – dass wir genauso auch die Welt verlieren, um sie wiederzufinden: denn wir werden Folgendes sehen: wenn außerhalb des göttlichen Prinzips, in der Entfremdung von ihm, die natürliche Welt, an sich betrachtet, Böses, Täuschung und Leiden ist, so wird sie in der positiven Beziehung zu diesem absoluten Prinzip, oder aus ihm heraus betrachtet, zum notwendigen Rüstzeug oder Material für die totale Verwirklichung, für die endgültige Realisierung des göttlichen Prinzips selbst (S. 592).

Die großen Kirchenväter der Antike vertraten die Meinung, dass dieselbe göttliche Vernunft, die sich in Christus geoffenbart hatte, auch vor ihrer Inkarnation inspirierte Weise des Heidentums mit ihrer Weisheit erleuchtete, so dass sie "Christen vor Christus" waren (S. 632).

Das einheitsstiftende Wirkprinzip im göttlichen Organismus Christi, das Prinzip, welches die Einheit des absolut Seienden zum Ausdruck bringt, ist offenbar das Wort oder der Logos.

Die Einheit der zweiten Art, die hervorgebrachte Einheit, trägt in der christlichen Theosophie den Namen Sophia... die somit die zum Ausdruck gebrachte, Wirklichkeit gewordene Idee ist. Und wie der Seiende, obgleich er sich von seiner Idee unterscheidet, zugleich eins ist mit ihr, so ist auch der Logos, obwohl er sich von der Sophia unterscheidet, innerlich mit ihr verbunden. Die Sophia ist der Leib Gottes, ist die vom Prinzip der göttlichen Einheit durchdrungene Materia der Gottheit. Christus, der diese Einheit in sich trägt und sie verwirklicht, ist als ganzheitlich-göttlicher Organismus – universal und individuell zugleich – ist sowohl Logos als auch Sophia.

Von Sophia als wesenhaftem Element der Gottheit zu sprechen, heißt vom christlichen Standpunkt aus nicht, neue Götter einzuführen. Den Sophia-Gedanken hat es im Christentum immer gegeben, mehr noch – es gab ihn bereits vor dem Christentum. Im AT gibt es ein ganzes Buch, das den Titel "Sophia" trägt und Solomo zugeschrieben wird, doch finden wir auch im Buch der "Sprüche Salomonis" die Entfaltung der Sophia-Idee (unter der entsprechenden Bezeichnung Chochma). "Die Sophia", so wird dort gesagt, "existierte vor der Schöpfung der Welt (das heißt der Welt des Natürlichen), Gott besaß sie im Anfang seiner Wege (Spr 8,22-24), und das bedeutet, dass sie die Idee ist, die Er bei seinem Schöpfungswerk vor sich hat und die Er folglich verwirklicht. Im NT finden wir diesen Terminus auch, und zwar schon in direkter Beziehung zu Christus (beim Apostel Paulus cf. 1Kor 24-30; Eph 1,17; Kol 2,3).

Die Wirklichkeit dieser göttlichen Welt kann offenbar nur demjenigen ganz zugänglich sein, der zu dieser Welt wirklich dazugehört. Da aber auch unsere natürliche Welt in engem Zusammenhang mit dieser göttlichen Welt steht, da zwischen ihnen kein unüberbrückbarer Abgrund ist und sein kann, so müssen einzelne Strahlen, muss ein Abglanz der göttlichen Welt auch in unsere Wirklichkeit eindringen und den ganzen Ideengehalt, alles Schöne und Wahre ausmachen, das wir in ihr vorfinden:

So höre ich nun allerwärts
die Dinge ihr Geheimnis sagen;
ich hör der Berge steinern Herz
seitdem in stummer Liebe schlagen;
aus Liebe ziehn im Himmelsblau
die weißen Wolken ihren Reigen,
aus Liebe schmückt im Lenz die Au
sich duftend neu mit grünen Zweigen.
Und meinem Herzen wurde kund,
dass alles, was dem WORT entsprossen,
sich sehnt in seines Wesens Grund,
bis es ins WORT zurückgeflossen.
Und jede Welle in der Flut
des Lebens strömt mit starkem Triebe,
selbst Liebe spendend, bis es ruht
im ewigen Meer von Gottes Liebe.
Und überall ist Klang und Licht,
ein einzig Wirken, Walten, Weben,
und was da ist, es wäre nicht,
würd’ es nicht aus der Liebe leben
(S.675, A. K. Tolstoj)

Dieses Bindeglied zwischen der göttlichen und der natürlichen Welt ist der Mensch.

Der Mensch vereint alle möglichen Gegensätze in sich, die sich aber alle auf den einen großen Gegensatz zwischen Unbedingtem und Bedingtem, zwischen der absoluten und ewigen Wesenheit und der vergänglichen Erscheinung oder Scheinhaftigkeit zurückführen lassen. Der Mensch ist Gottheit und Nichtigkeit zugleich.

Wenn im göttlichen Wesen – in Christus ist die erste oder hervorbringende Einheit eigentlich die Gottheit – Gott als Wirkkraft oder Logos ist, und wenn wir also in dieser ersten Einheit Christus als das eigentlich göttliche Wesen haben, so ist die zweite, die hervorgebrachte Einheit, der wir den mystischen Namen Sophia gaben, das Prinzip der Menschheit (¹ elove¹ estvo), ist der ideale oder normale Mensch. Und Christus, der in dieser Einheit am menschlichen Prinzip teilhat, ist Mensch, oder nach dem Wort der Heiligen Schrift, der zweite Adam.

Und so ist die Sophia die ideale, vollkommene, von Ewigkeit im durch und durch (cel’nyj) göttlichen Wesen oder in Christus angelegte Menschheit (d.h. die arch). Wenn einmal feststeht, dass Gott, um wirklich und real zu existieren, sich und seine Existenz zur Erscheinung bringen, also im anderen wirksam sein muss – so wird damit gleichzeitig auch die Notwendigkeit der Existenz dieses anderen bestätigt; da wir aber, wenn wir von Gott sprechen, nicht die Kategorie der Zeit im Auge haben können, weil jede Aussage über Gott Ewigkeit voraussetzt, so muss auch der Existenz dieses anderen, für das Gott zur Erscheinung kommt, notwendig Ewigkeitsdauer zuerkannt werden. Dieses andere ist für Gott nicht ein absolut anderes (was undenkbar wäre), sondern ist sein Ausdruck oder seine Erscheinungsform; und in diesem Sinn wird Gott als das Wort bezeichnet.

Doch diese Entäußerung oder innere Offenbarung der Gottheit – folglich aber auch Unterscheidung Gottes, als Logos, von Gott als der Ursprungssubstanz oder dem Vater, diese Offenbarung und Unterscheidung setzen notwendig schon das voraus, worin sich die Gottheit offenbart oder worin sie wirkt, und was im ersten (im Vater) substantiell und latent vorhanden ist, durch das zweite (den Logos) aber zur Erscheinung gebracht wird.

Folglich muss man aber – soll Gott als Logos oder als wirkender Gott ewig sein – voraussetzen, dass auch die Existenz der realen Elemente, die das göttliche Wirken aufnehmen, ewig ist, und dass die Existenz der Welt darin besteht, dem göttlichen Wirken offenzustehen und der göttlichen Einheit in sich Raum zu bieten; vgl. dazu die Inschrift in der Chora-Kirche: Maria, h cwra tou acwrhtou - das Gefäß des Unfassbaren, der Raum des Unräumlichen - oder: o logoV ou cwrei en umin - das Wort findet keinen Raum in euch. Die eigentliche – und das heißt die hervorgebrachte – Einheit dieser Welt, der Mittelpunkt der Welt und die äußere Hülle der Gottheit zugleich – das eben ist die Menschheit.

Jede Wirklichkeit setzt Wirken voraus, jedes Wirken aber einen realen Gegenstand des Wirkens, ein Subjekt, das die Wirkung aufnimmt; somit setzt auch die Wirklichkeit Gottes, die auf dem Wirken Gottes gründet, ein Subjekt voraus, das dieses Wirken aufnimmt, setzt den Menschen voraus, und zwar für alle Ewigkeit, da ja Gottes Wirken ewig währt. Dem gegenüber kann man einwenden, dass der ewige Gegenstand des Wirkens für Gott schon im Logos gegeben ist, denn der Logos ist ja derselbe Gott, nur zur Erscheinung kommend; dieses Erscheinen aber setzt jenes andere voraus, für das oder in bezug auf das Gott zutage tritt – und das heißt, es setzt den Menschen voraus.

Wenn wir von der Ewigkeit des Menschen oder der Menschheit sprechen, so ist evident, dass wir damit nicht den natürlichen Menschen oder den Menschen als Erscheinungsform meinen – das wäre nicht nur ein innerer Widerspruch, sondern widerspräche auch der wissenschaftlichen Erfahrung.

Wir müssen also jenen ideellen Wesenheiten, die in der unmittelbaren äußerlichen Erfahrung nicht gegeben sind, volle Wirklichkeit zuerkennen – jenen Wesenheiten, die an sich weder materiell in unserem Raum existierende Elemente sind noch psychisch sich in unserer Zeit abspielende Zustände oder Vorgänge.

Aus dieser Sicht sind wir, wenn wir vom Menschen sprechen, weder gezwungen noch berechtigt, ihn auf seine gegebene sichtbare Wirklichkeit einzuschränken, wir sprechen vom Menschen in seiner Idealität, der aber nichtsdestoweniger durchaus wesenhaft und real ist, ja bei weitem und unermesslich wesenhafter und realer als die sichtbare Erscheinungsform menschlicher Wesen.

"In uns", sagt ein Dichter der Antike, "in uns, aber nicht in den Sternen des Himmels und nicht in den Tiefen des Tartarus, wohnen die ewigen Kräfte des ganzen Universums".

Wenn der Mensch als Erscheinung ein zeitgebundenes, vergängliches Faktum ist, so ist er als Wesenheit notwendig ewig und allumfassend. Was ist nun dieser ideale Mensch? Um wirklich zu sein, muss er Einheit und Vielheit zugleich sein, folglich ist er nicht nur die universale, allgemeine Wesenheit aller menschlichen Individuen, deren Abstraktion, sondern er ist universales und individuelles Wesen zugleich, das all diese Individuen wirklich in sich birgt. – Jeder von uns, jedes menschliche Wesen hat wesenhaft und wirklich Anteil am universalen oder absoluten Menschen und wurzelt in ihm.

So wie die göttlichen Kräfte den einen ganzheitlichen, absolut universalen und absolut individuellen Organismus des lebendigen Logos bilden, so bilden auch alle menschlichen Elemente einen solchen ganzheitlichen, zugleich universalen und individuellen Organismus, der die notwendige Verwirklichung und das Gefäß des ersteren ist, bilden den all-menschlichen Organismus, als ewigen Leib Gottes und als ewige Weltseele. Da dieser letzte Organismus, also die Sophia, schon in ihrem ewigen Sein notwendig aus einer Vielfalt von Elementen besteht, deren reale Einheit sie ist, muss jedes dieser Elemente, als notwendiger Bestandteil des ewigen Gottmenschentums, als ewig in seiner absoluten oder ideellen Ordnung anerkannt werden.

Nur wenn wir zugeben, dass jeder wirkliche Mensch mit seinem tiefsten Wesen in der ewigen göttlichen Welt wurzelt, dass er nicht nur eine sichtbare Erscheinung, das heißt eine Abfolge von Vorgängen und ein Aggregat von Fakten darstellt, sondern ein ewiges, einzigartiges Wesen, ein notwendiges und unersetzliches Glied des absoluten Ganzen, nur dann, so sage ich, können zwei große Wahrheiten vernünftigerweise zugegeben werden, die nicht nur für die Theologie, also für das religiöse Wissen, sondern auch für das menschliche Leben überhaupt unerlässlich sind: die Wahrheit von der Freiheit und die Wahrheit von der Unsterblichkeit des Menschen (S. 685).

Insofern als sie den göttlichen Logos in sich aufnimmt und von ihm her bestimmt wird, ist die Weltseele die Menschheit – die göttliche Menschheit Christi – der Leib Christi oder die Sophia. Dadurch dass die Weltseele das eine göttliche Prinzip aufnimmt und alle Vielheit der Wesen in dieser Einheit verbindet, verhilft sie dem göttlichen Prinzip zur vollen tatsächlichen Verwirklichung in allem; durch ihre Vermittlung kommt Gott als lebendig wirkende Kraft oder als der Heilige Geist in der ganzen Schöpfung zum Durchbruch. Mit anderen Worten: dadurch dass die Weltseele vom göttlichen Logos bestimmt und geformt wird, ermöglicht sie dem Heiligen Geist, sich in allem zu verwirklichen, denn das, was sich im Licht des Logos zu ideellen Formen entfaltet hat, das wird vom Heiligen Geist in realem Wirken verwirklicht. Von daher wird evident, dass die Weltseele alle Elemente der Welt nur in dem Maß als Einheit enthält, wie sie sich selber dem von ihr aufgenommenen göttlichen Prinzip unterordnet, wie sie dieses göttliche Prinzip zum einzigen Objekt ihres Lebenswillens, zum bedingungslosen Ziel und Mittelpunkt ihres Seins macht; denn nur insoweit, als sie selber von der göttlichen All-Einheit durchdrungen ist, kann sie diese in die ganze Schöpfung einführen, indem sie kraft der immanenten Gottheit alle Vielheit der Wesen zusammenschließt und sich unterordnet (S.700).

Im Menschen vereinigt sich die Weltseele mit dem göttlichen Logos zum ersten Mal innerlich im Bewusstsein, als der reinen Form der All-Einheit. Obwohl der Mensch real nur eines aus der Vielzahl der Naturwesen ist, ist er doch in seinem Bewusstsein fähig, die Vernunft oder den inneren Zusammenhang und Sinn (logoV), alles Existierenden zu begreifen und erscheint so in der Idee als Ganzes, und in diesem Sinn ist er das zweite All-Eine, das Bild und Gleichnis Gottes (S. 710).

Was sich in Jesus inkarniert, ist nicht ein transzendenter Gott, nicht die absolute, in sich abgeschlossene Fülle des Seins (was unmöglich wäre), sondern es inkarniert sich Gott – das Wort, das im Äußern zur Erscheinung kommende, an der Peripherie des Seins wirkende Prinzip (d. h. Gesù abbandonato), und seine persönliche Inkarnation in einem individuellen Menschen ist nur das letzte Glied einer langen Reihe anderer, physischer und historischen Verkörperungen (d. h. die vielen Christusse in dem einen Christus); dieses Erscheinen Gottes als Mensch im Fleisch ist bloß eine vollständigere und vollkommenere Theophanie in einer Reihe anderer, unvollständiger, vorbereitender und umgestaltender Theophanien (s. Kyrill von Alexandrien: in Ihm sind die beiden Naturen upostatikwV verbunden, in uns ist die Einheit mit dem Logos scetikwV) (S. 730).

In dieser Periode hat er noch harte Worte gegen die katholische Kirche, so etwa auf S. 741 (ganz im Gegensatz zur Periode nach 1882): Die äußerlichen Christen, die an die Wahrheit Christi wohl glauben, doch aus ihr nicht wiedergeboren worden sind, können das Bedürfnis haben, ja sie können es sogar als ihre Pflicht ansehen, die ganze außerchristliche und feindselige Welt Christus und seiner Kirche untertan zu machen und, da sich die im Argen liegende Welt den Kindern Gottes nicht freiwillig unterwirft, sie eben mit Gewalt dazu zu zwingen. Dieser ersten Versuchung des religiösen Willens zur Macht (vlastoljubie) verfiel der Teil der Kirche, der von der römischen Hierarchie angeführt wurde und der die Mehrheit der westlichen Menschheit in der ersten großen Periode ihres historischen Lebens, im Mittelalter mit sich riss.. Das wesenhaft Falsche an diesem Weg ist jener latente Unglaube, der an seiner Wurzel liegt....Und dieser Unglaube, der sich anfangs wie ein kaum merklicher Keim im Katholizismus verborgen hielt, trat in der Folgezeit offen zutage. So wird im Jesuitentum – diesem radikalsten und reinsten Ausdruck des römisch-katholischen Prinzips – zur treibenden Kraft nicht mehr christlicher Eifer, sondern der verdeckte Wille zur Macht; die Völker unterwerfen sich nicht mehr Christus, sondern der Macht der Kirche, von ihnen wird das wirkliche Bekenntnis christlichen Glaubens gar nicht gefordert – es genügt die Anerkennung des Papstes und die Unterordnung unter die Macht der Kirche.

In der gott-menschlichen Persönlichkeit entäußert sich das göttliche Prinzip wirklich (samootverû enie – Gesù Abbandonato, kenotico, kenwsiV), und zwar dadurch, dass es zum anderen nicht durch äußeres Handeln in Beziehung tritt, indem es dem anderen Grenzen setzt, ohne sich selbst zu verwandeln, sondern durch innere Selbstbegrenzung, die dem anderen Raum in sich selbst gibt – eine solche innere Vereinigung mit dem anderen ist wirkliche Selbstentäußerung des göttlichen Prinzips; hier läßt es sich wirklich herab, es erniedrigt sich und nimmt Knechtsgestalt an. Christus verzichtet als Gott aus freiem Willen auf die Herrlichkeit Gottes, und gerade dadurch wird es ihm als Mensch möglich, diese Herrlichkeit Gottes zu erringen (S. 734).

Wenn die Überschattung der menschlichen Mutter von der wirkenden Kraft Gottes die Menschwerdung der Gottheit bewirkte, so muss die Befruchtung der göttlichen Mutter (der Kirche) durch die Wirkkraft des menschlichen Prinzips die freie Vergöttlichung der Menschheit zur Folge haben (S. 749).

So ist also der Mensch-Gott notwendig ein kollektiver, und das heißt die All-Menschheit oder die Universale Kirche; der Gott-Mensch ist individuell, der Mensch-Gott ist universal: so wie der Radius für jeden Punkt auf der Kreislinie ein und derselbe und folglich selbst das Prinzip des Kreises ist, die einzelnen Punkte der Peripherie aber nur in ihrer Gesamtheit einen Kreis bilden (S. 750 ENDE).

Einige Gedanken aus Band II (Una Sancta)
der Deutschen Gesamtausgabe

1. Die geistlichen Grundlagen des Lebens (1882-1884)

Die volle Wahrheit der Welt besteht in der lebendigen Einheit dieser Welt als eines durchgeistigten und gott-tragenden Leibes. Darin liegt die Wahrheit der Welt, und darin liegt ihre Schönheit. Wenn die Vielfalt der sinnlichen Erscheinungen in eins zusammenklingt, dann wird diese sichtbare Harmonie von uns als Schönheit empfunden (kosmoV = Welt, Harmonie, Schönheit).

Wir dürfen die Fülle Christi nicht in unserer persönlichen Sphäre suchen, sondern in Seiner eigenen universalen Sphäre; und das ist die Kirche. Die Kirche an sich, in ihrem wahren Sein, stellt die göttliche Wirklichkeit Christi auf Erden dar.

Aber in der Person Christi hat die Gottheit auch das rein-menschliche und das naturhafte Prinzip mit sich verbunden (S. 11).

Das getrennte Sein der Wesen ist nur ihre falsche Lage, ein trügerisches und vorübergehendes Verhältnis; das wahre Sein aber haben sie nur in der Einheit mit allem. Das Erstgeburtsrecht des Seins kommt nicht den einzelnen Teilen, sondern dem Ganzen zu. Der absolute Uranfang und die Quelle jeglichen Seins ist die absolute Ganzheit des Seienden, das heißt: Gott. Diese Ganzheit des All, in ihrem Ansichsein (sama po sebe) in der unveränderlichen Ruhe der Ewigkeit verweilt, enthüllt und offenbart sich in dem allvereinigenden Sinn der Welt, so dass dieser Sinn der direkte Ausdruck oder das Wort (der logoV) der Gottheit, offenbarer und wirkender Gott ist (S. 75).

Das Wesen des Guten wird durch das Wirken Gottes gegeben, aber die Energie seiner Erscheinung im Menschen kann nur die Verwandlung der überwältigten, in den Zustand der Potentialität überführten Kraft der Selbstbehauptung des persönlichen Willens sein. So hat im heiligen Menschen das aktuale Heilsgut das potentielle Böse zur Voraussetzung: er ist deswegen so groß in seiner Heiligkeit, weil er auch im Bösen groß sein könnte; er hat die Kraft des Bösen bezwungen, sie dem höheren Prinzip untergeordnet, und sie ist Grundlage und Träger des Guten geworden. Eben darum ist das jüdische Volk, das die schlechtesten Seiten der menschlichen Natur aufweist, das "halsstarrige Volk", das "Volk mit steinernem Herzen" – darum ist dieses Volk auch das Volk der Heiligen und Propheten Gottes, das Volk, in dem der neue geistliche Mensch geboren werden sollte (S. 86).

Der Sinn der Welt, in dem auch die Gerechtigkeit Gottes beschlossen liegt, ist die innere Einheit eines jeden mit allen. In der Gestalt lebendiger persönlicher Kraft ist diese Einheit Liebe (S. 88).

Das im Äußeren erscheinende, das auf der Peripherie des Seins wirkende Prinzip und dessen persönliche Inkarnation in einem individuellen Menschen ist nur das letzte Glied von einer langen Reihe anderer physischer und historischer Realisierungen, - diese Erscheinung Gottes im menschlichen Fleisch ist nur eine umfassendere, vollkommenere Theophanie in einer Reihe anderer unvollkommener, vorbereitender und vorbildhafter Theophanien. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, ist das Erscheinen des geistlichen Menschen, die Geburt des zweiten Adam, nicht schwerer verständlich als das Erscheinen des natürlichen Menschen auf der Erde, als die Geburt des ersten Adam. Das eine wie das andere war eine neue, nicht dagewesene Tatsache im Leben der Welt, das eine wie das andere stellt sich in diesem Sinne als Wunder dar; aber dieses Neue und Nicht-Dagewesene war vorbereitet durch alles, was vorher gewesen war, was das ganze frühere Leben gewünscht, wonach es gestrebt hatte, worauf es zugeeilt war: zum Menschen strebte die ganze Natur, auf den Gottmenschen hin war die ganze Geschichte der Menschheit gerichtet...die Inkarnation fügt sich als wesentliches Moment in den allgemeinen Plan des Weltenbaus ein (S. 92).

Da nun aber in der gottmenschlichen Persönlichkeit das Verhältnis des göttlichen Prinzips zu dem anderen nicht durch äußeres Handeln bestimmt ist, das dem anderen Grenzen setzt, ohne sich selbst zu verändern, sondern durch innere Selbstbeschränkung, die dem anderen in sich Raum gibt, darum ist in ihr eine solche innere Vereinigung mit dem anderen eine wirkliche Selbstentäußerung des göttlichen Prinzips; hier steigt es wirklich hinab, erniedrigt sich selbst, nimmt Knechtsgestalt an (Phil 2,7). Das göttliche Prinzip ist hier nicht nur für den Menschen verborgen durch die Grenzen des menschlichen Bewusstseins, wie es bei den früheren unvollkommenen Theophanien der Fall war, sondern es nimmt selbst diese Grenzen an; nicht dass es völlig in diese Grenzen des natürlichen Bewusstseins einginge – das ist unmöglich - aber es empfindet diese Grenzen im gegebenen Moment aktual als die seinen, und diese Selbstbeschränkung der Gottheit in Christus befreit seine Menschheit, indem sie Seinem natürlichen Willen erlaubt, sich in Freiheit von sich selbst loszusagen zugunsten des göttlichen Prinzips – nicht als einer äußeren Kraft (denn in einem solchen Falle wäre die Selbstentsagung unfrei), sondern als ein inneres Gutes – um dadurch dieses Gut wirklich zu erringen. Christus also entsagt in Freiheit der Herrlichkeit Gottes, und eben dadurch empfängt Er als Mensch die Möglichkeit, diese Herrlichkeit Gottes zu erlangen (S. 96).

Die Auferstehung ist die innere Aussöhnung von Materie und Geist. Die Materie wird hier eins mit dem Geist als dessen realer Ausdruck, als ein geistlicher Leib. Die endgültige und spezifische Wahrheit des Christentums besteht in der Vergeistigung und Vergöttlichung des Fleisches (S. 101).

Die natürliche Ernährung ist in ihrem Grunde Mord: um unser sterbliches Leben zu erhalten, verwandeln wir ein Lebewesen in totes Material. Die natürliche Vermehrung ist für den sich Vermehrenden Selbstmord: er verwandelt sich selbst in Material zur Hervorbringung sterblichen Lebens in einem anderen. Das eine wie das andere ist Mord, nur ist bei der Ernährung der Mörder die einzelne Person, bei der Vermehrung aber die Gattung (S. 103).

Indem die Menschheit in ihrer Seele und in ihrem Körper sich von der geistlichen Leiblichkeit des Gottmenschen Christus durchdringen lässt, baut sie in sich den gottmenschlichen Leib auf. Und wie die Fülle der natürlichen Ernährung zur natürlichen Vermehrung führt, so muss die Fülle der geistlichen Ernährung zur geistlichen Vermehrung führen, das heißt, zur Ausbreitung des unsterblichen Lebens über die ganze erstorbene, auseinander gefallene Natur, die mit der Menschheit als deren lebendiger Leib vereint werden muss; die Menschheit selbst aber muss durch ihre Vergeistigung zur Vereinigung ihres physisch lebenden Teiles (der sichtbaren Kirche) mit dem physisch gestorbenen (der unsichtbaren Kirche) geführt werden. Eine solche Vereinigung der drei jetzt getrennten Teile der Welt: ihres Geistes (der unsichtbaren Kirche oder der geistlichen Welt), ihrer Seele (der lebenden Menschheit oder der sichtbaren Kirche) und ihres Körpers (der äußeren materiellen Natur) wird die Wiederherstellung des Alls in absoluter Ganzheit oder die Integrierung (istzelenije = Heilung, zum Adjektiv tzelyj = lateinisch integer) des Universums sein. Eine solche dreieinige, in ihrem ganzen Umfang und Inhalt vereinte oder integrierte Welt wird ein wahrhaftes und volles Bild und Gleichnis des Dreieinigen Gottes, Sein wirkliches Reich, Ausdruck Seiner Kraft und Herrlichkeit sein. Die volle Vereinigung der integrierten Welt mit Gott oder die vollkommene Inkarnierung des absoluten Sinnes in der Welt als dem lebendigen Organismus der Gottheit, wo Gott alles in allem sein wird, ist das Ende jenes Werkes, dessen Grund gelegt wurde durch die Inkarnierung des gleichen Göttlichen Sinnes in dem individuellen Wesen Jesu, des Erstlings aus den Toten und des Ecksteins im Bau des lebendigen Tempels des Universums (S. 105).

Es ist klar, dass, wenn die Kirche nicht ohne Menschen und ohne den Geist Gottes sein kann, sie auch genau so wenig ohne jene bildende Form sein kann, mittels derer der Geist Gottes unter den Menschen als Gliedern des einen Ganzen unter Ausschaltung ihrer persönlichen Begrenztheit wirkt...Haupt und Herz der Kirche – Christus und die Gottesmutter – befinden sich in der ewigen göttlichen Welt und können von keiner Krankheit befallen werden (sind darum Ursache der immer wieder erfolgenden Heilung der kranken Glieder) (S. 109).

Für Gott und in Gott, und folglich auch für alle, die schon in Gott sind – für die seligen Geister der unsichtbaren Kirche – ist das Reich Gottes schon gegründet, das heißt in ihren Augen ist der ganze hierarchische Aufbau des Universums in all seiner reich gegliederten Vollkommenheit, sind alle Tiefen des wahren Wissens und ist die ganze Fülle der lebendigen und mystischen Gemeinschaft der Gottheit mit der Schöpfung – ist diese gesamte dreigliedrige (trechsostwnoje) Ganzheit ein vollkommener, in allen seinen Teilen bestimmter und zweckmäßiger Organismus der Gottesschöpfung oder Leib Gottes. Auch im historischen Sein der sichtbaren Kirche ist dieser göttliche Leib schon von Anfang an ganz gegeben, aber nicht geäußert oder offenbart, sondern er offenbart oder äußert sich nur allmählich. Nach dem Gleichnis des Evangeliums ist dieser universale Leib (das Reich Gottes) uns zuerst als göttlicher Same (Mt 13) gegeben. Der Same ist nicht ein Teil oder ein einzelnes Organ eines lebendigen Leibes; - er ist der ganze Leib, aber nur in der Möglichkeit oder Potenz, das heißt, in einem für uns verborgenen und nicht-aufgegliederten Zustand, der sich erst allmählich enthüllt (S. 117).

2. Solov’evs Weg zur Una Sancta (Vladimir Szylkarski)

Den Keim, aus dem der mächtige Baum seiner Weltanschauung erwuchs, hat Solov’ev in einer geheimnisvollen "inneren Erleuchtung" empfangen. Die "himmlische Sophia" – so nennt Jakob Boehme die schöpferische Allweisheit Gottes – hat ihm früh ihr ewiges Antlitz enthüllt und die Einsicht in die letzten Gründe alles Daseins gestattet (S. 155).

Die freie Wiedervereinigung der Schöpfung mit dem Schöpfer in der wiedergewonnen All-Einheit wird in der vom Gottessohn Christus gestifteten Kirche vollzogen. Die "Braut Christi", welche die ganze Menschheit und durch die Menschheit die gesamte Schöpfung Seinem heiligen Reich entgegenführt, ist die vollkommenste Offenbarung der Allweisheit Gottes auf Erden (S. 157).

Die scharfe Ablehnung der historischen Wege Roms, die er von seinen slawophilen Vorgängern geerbt hat, bleibt bis zum Ende seiner ersten, der orthodox-messianistischen Schaffensperiode (1874 - 1881) bestehen (S. 158).

Aus der Erklärung, die wir in Solov’evs Brief an Iwan Aksakow vom Februar 1883 (Briefe IV, 19) finden, folgt unwiderleglich, dass unser Denker in der Zeit, da er seinen Schisma-Aufsatz schrieb (1882) eingesehen hat, wie nichtig seine Anklage gewesen ist, die katholische Kirche habe neue Dogmen geschaffen: "den Inhalt des Aufsatzes über den Katholizismus und die Kirchentrennung habe ich seit dem vorigen Frühjahr, das heißt, beinahe das ganze Jahr überlegt". In diesem Aufsatz kommt die radikal veränderte Stellung Solov’evs zur katholischen Kirche bereits zum unverhohlenen Ausdruck (S. 203).

Er spricht von der "ökumenischen Kirche", meint damit aber nicht mehr nur die orthodoxe Kirche.

3. Der große Streit und die Christliche Politik (1883)

Das ganze Leben der Menschheit durchzieht der große Streit zwischen dem Osten und dem Westen. Lange vor dem Christentum entstanden, zeitweilig von ihm hintangehalten, wurde dieser Streit in der christlichen Welt selber durch die antichristliche Politik erneuert (S. 209).

So ist die russische Orientfrage nichts anderes als der Streit des ersten, des abendländischen Roms mit dem zweiten, dem morgenländischen Rom, dessen politische Vertretung schon im fünfzehnten Jahrhundert auf das dritte Rom – an Russland – übergegangen war (S. 214).

Vom frühesten Anfang der menschlichen Geschichte an trat deutlich der Gegensatz zwischen der östlichen und der westlichen Kultur hervor. Die Grundlage der östlichen Kultur ist die Unterordnung des Menschen in allem unter eine übermenschliche Macht, die der westlichen Kultur - die Selbsttätigkeit des Menschen (S. 218).

Alle Führer der Rechtgläubigkeit im Osten vom heiligen Athanasius dem Großen, der von den Arianern verfolgt wurde, bis zum heiligen Theodor von Studion, den die Bilderstürmer verfolgten, wandten ihre Blicke nach dem Wesen, suchten und fanden im rechtgläubigen Rom Verteidigung und Stütze (S. 261).

Er unterscheidet klar zwischen Papsttum und Papismus. Die Aufgabe besteht nicht darin, die eine ökumenische Kirche zu erschaffen, sondern nur darin, die sichtbare Erscheinung der Kirche mit ihrem Wesen in Einklang zu bringen. Jede von den zwei Kirchen ist bereits die ökumenische Kirche, jedoch nicht in der Absonderung von der anderen, sondern in der Einheit mit ihr. Diese Einheit ist in Wirklichkeit da, weil die beiden Kirchen in Wirklichkeit von den gottmenschlichen Banden des Priestertums, der dogmatischen Überlieferung und der Sakramente umfasst werden. Aber in diesen gestaltenden Banden wirkt der Geist des Gottmenschen Christus, und nicht unser eigener Geist. Die Einheit der beiden Krichen existiert in Christus und in Seinem gnadenvollen Wirken, aber wir müssen sie noch durch unser eigenes Tun, in unserem Leben verwirklichen. Die wesenhafte, unseren Blicken entzogene Einheit der ökumenischen Kirche muss offenbar werden durch die sichtbare Wiedervereinigung der zwei von der Geschichte getrennten, aber in Christo untrennbaren Gemeinschaften (S. 318).

Hinzugegeben wird nicht nur die sichtbare Vereinigung zwischen der Ost- und der Westkirche, sondern auch die Wiedervereinigung des Protestantismus mit der Kirche. Denn unsere freie und sittliche Versöhnung mit dem katholischen Prinzip der Autorität wird diesem Prinzip den Charakter des Zwanges und der Äußerlichkeit nehmen, der die protestantische Bewegung hervorgerufen hat (S. 322).

Wenn wir, die Orthodoxen und die Katholiken, die wir uns in der Einheit des Leibes Christi befinden, uns dieser mystischen Einheit bewusst werden und sie durch den sittlichen Bund der Gemeinschaft (obschtschenije) und Liebe befestigen, dann wird auch das protestantische Prinzip der Freiheit seine wahre Anwendung und einen hohen Platz in der Vollendung der Kirche finden; denn die Vollendung der Kirche ist die freie Theokratie. Dann wird auch die Wahrheit des Gottmenschentums, die uns in ihrem Wesen gegeben ist, als unser eigenes Werk erscheinen, wird sich in unserem wirklichen Leben verkörpern. Dann werden die gestaltenden Prinzipien des Ostens und des Westens, versöhnt und vereinigt im Christentum, aber wieder getrennt in den Christen, sich in diesen selbst vereinigen und die ökumenische gottmenschliche Kultur erschaffen. Das östliche Prinzip – die passive Hingabe an das Ewige und Göttliche – und das westliche Prinzip – die Selbsttätigkeit des Menschen (durch Macht und durch Freiheit) – werden ihre Einheit und ihre Wahrheit im selbsttätigen und freien Dienst aller menschlichen Kräfte an der göttlichen Wahrheit finden (S. 324).

4. Geschichte und Zukunft der Theokratie
Untersuchung des Universalhistorischen Weges zum wahren Leben. (1885- 1886)

Im nächsten Jahr (1887) werden es 11 Jahrhunderte sein, seit dem die östliche orthodoxe Kirche zum letzten Mal an einem Akt von ökumenischer Bedeutung teilgenommen, zum letzten Male ihren universalen Charakter bekundet hat. Vor 11 Jahrhunderten fand das letzte Konzil, das im Osten anerkannt wird, statt. Nach der Lehre unserer Katechismen und Dogmatiken ist das ökumenische Konzil das einzige Organ des unversal-kirchlichen Urteilens und Handelns. Elfhundert Jahre lang gab also die ökumenische Kirche als solche ihre Stimme nicht ab, fällte sie kein Urteil, vollbrachte sie keine Tat. Für jeden Russen und Orthodoxen, der tatsächlich an die ökumenische Kirche glaubt als an die lebendige Ganzheit der christlichen Menschheit und als den wahren Stützpunkt mitten in den gottlosen Elementen der modernen Welt – für einen jeden solchen Menschen muss diese Tatsache als höchst traurig und sogar als völlig unbegreiflich dastehen (S. 389).

Nicht für leichte und einfache Werke hat Gott das große und mächtige Russland geschaffen. Und so schwer auch die Sache der Kirchenvereinigung ist, dies hindert nicht, dass sie unsere Lebensaufgabe und weltgeschichtliche Berufung wird (S. 394).

Wenn die heuchlerischen Atheisten sich verstellen, als seien sie Verteidiger der Orthodoxie, und, um ihre eigenen Pläne, die nichts mit der Religion zu tun haben, durchzuführen, - den kirchlichen Hass mit ungerechten oder jedenfalls übertriebenen Angriffen auf den Katholizismus schüren, so müssten die aufrichtigen Verteidiger der Orthodoxie wenigstens das begreifen lernen, dass der Katholizismus unter allen Umständen besser ist, als der Indifferentismus und die Gottlosigkeit, die dem kleinlichen und boshaften nationalen Egoismus eine orthodoxe Maske aufsetzen (S. 399).

Die Wahrheit der Offenbarung ist die eine und unteilbar. Von den ersten Kapiteln der Genesis an und bis zu den letzten Kapiteln der Apokalypse, von dem Eden im Osten bis zum Neuen Jerusalem, das vom Himmel herabsteigt, besteht diese Wahrheit in einem und demselben, es gehört ihr ein und derselbe Name – das Gottmenschentum, die Vereinigung Gottes mit der Schöpfung. Diese eine und unwandelbare Wahrheit, angelegt in der Menschheit zuerst als Erwartung (für die Heiden), und als Verheißung (für das Gottesvolk), wird zum Ereignis durch die Erscheinung des wirklichen Gottmenschen Jesus Christus im Fleische als des persönlichen Mittelpunktes für das ökumenische Gottmenschentum (S. 419).

In den folgenden Kapiteln kommt er zu sprechen auf die Lehren der Kirchenväter und der Konzilien, die alle – im Gegensatz zu den Meinungen mancher orthodoxer Theologen wie T. Stojanow ("Der Glaube und die Vernunft" August 1885) – eine Entwicklung der Dogmen befürworten: im Kern bereits vorhanden, entfalten sie sich legitimerweise, besonders auch gegenüber aufkommenden Häresien. So würde auch mancher Heilige in seinen Aussagen später verurteilt, wenn er den zu seiner Zeit noch gültigen Ausdruck in einer späteren Zeit verwenden würde, der aber zu seiner Zeit noch nicht klar definiert und abgegrenzt worden war (s. Cyrills von Alexandrien Mia fusiV).

Die Kirche ist ein besonders selbständiges Wesen, das unermesslich wirklicher und lebendiger ist als alle Personen und Völker, die in ihren Bestand eingehen: sie ist in dem Maße wirklicher und lebendiger als diese, wie der ganze menschliche Leib die einzelnen Organe und Zellen übertrifft, aus denen er besteht. Wenn man aber in der ökumenischen Kirche ein solches selbständiges gottmenschliches Wesen nicht sieht, dann ist es freilich unmöglich, von der Entwicklung der Kirche und ihrer Lehre zu sprechen. Denn die losgelöste Wahrheit der Gottheit kann sich an und für sich nicht entwickeln, das persönliche oder sogar das nationale Verstehen kann sich allerdings entwickeln, aber dieses partielle Verstehen bildet noch nicht die Entwicklung der ökumenischen Kirche selber (S. 476).

Man soll nicht danach fragen, ob eine gewisse Lehre progressiv oder konservativ ist, ob sie mit unseren nationalen Idealen harmoniert oder nicht, sondern einzig danach, in welchem Verhältnis – einem positiven oder negativen – sie sich zum gott-menschlichen Wesen der ökumenischen Kirche und ihren Lebensaufgaben auf Erden befindet (S. 481 ENDE).

Einige Gedanken aus Band III (Una Sancta)
der Deutschen Gesamtausgabe

1.Brief an Bischof J. G. Stroßmayer (Sept. 1886)

Die Ostkirche hat niemals eine Lehre, die der katholischen Wahrheit widerspricht als verpflichtendes Dogma definiert. Die Definitionen der ersten sieben Konzilien sind katholisch und orthodox zugleich, die späteren Lehrmeinungen sind gut und für die Entwicklung der Theologie förderlich, da aber die Ostkirche kein weiteres verbindliches Konzil hatte und auch die Trennung nie legitimiert hat, besteht unser Schisma selbst nur de facto, aber keineswegs de jure.

Während die Griechen gelegentlich Katholiken beim Übertritt wiedertaufen, geschieht das bei den Russen nicht, so auch nicht 1839 als die Ruthenen gewaltsam wieder der orthodoxen Kirche eingegliedert wurden, man verlangte vom Volke keinerlei Abschwörung seiner katholischen Glaubensüberzeugungen.

Sobald die alte Einheit erst einmal wiederhergestellt ist, wird die katholische Kirche, obwohl sie kraft des Zentrums der Einheit immer römisch bleiben wird, doch in ihrer Ganzheit nicht mehr lateinisch und abendländisch sein.

Es gibt bei uns zahlreiche Leute, die die Einheit wollen, aber die Latinisierung fürchten. Man muss ihnen also die Zusicherung geben, dass, wenn die Ostkirche zur Katholischen Einheit zurückkehrt, wenn sie dem Heiligen Stuhl jene Gewalt zuerkennt, die Unser Herr wollte und in der Person des heiligen Petrus einsetzte, um die Einheit, die Eintracht und den legitimen Fortschritt der gesamten Christenheit zu wahren, dass sie dann nicht nur ihren Ritus (was sich von selbst versteht), sondern auch die ganze Autonomie der Organisation und der Verwaltung, die der Orient vor der Kirchentrennung besaß, behalten wird.

2.Die Russische Idee - (Paris 23. 5. 1888)

Wenn wir die wesentliche und reale Einheit des Menschengeschlechtes annehmen – man muss sie wohl annehmen, da sie eine religiöse Wahrheit darstellt, die durch die rationale Philosophie gerechtfertigt und durch die exakte Wissenschaft bestätigt ist, - wenn wir diese substantielle Einheit annehmen, so müssen wir die ganze Menschheit als ein großes Kollektivwesen oder einen sozialen Organismus betrachten, dessen lebendige Glieder die verschiedenen Nationen darstellen. Die organische Funktion, die eine Nation in diesem universalen Leben zu erfüllen hat – dies ist ihre wahre nationale Idee, von Ewigkeit festgesetzt im Weltplan Gottes.

Russland wurde christlich durch Vladimir, europäisch durch Peter den Großen.

Der Daseinsinn der Nationen findet sich nicht in ihnen selber, sondern in der Menschheit. Das russische Volk ist ein christliches Volk, und um die wahre russische Idee zu kennen, braucht man sich nur zu fragen, was es im Namen des christlichen Prinzips, das es anerkennt, und für das Wohl der universalen Christenheit, als deren Bestandteil es angesehen wird, tun muss: mit Herz und Seele in das gemeinsame Leben der christlichen Welt eintreten und alle seine nationalen Kräfte darauf verwenden, im Einklang mit anderen Völkern jene vollkommene und universale Einheit zu verwirklichen, deren unverrückbare Grundlage uns in der Kirche Christi gegeben ist.

Dann zitiert er den "glühenden Slawophilen und erklärten Feind des Westens im allgemeinen und der Kirche Roms im besonderen, der gegen Papsttum und gegen die Gesellschaft Jesu Ekel empfand" I.S. Aksakow (S. 57 – 65). Dieser hat viel Kritik an der staatskirchlichen Form der russischen Kirche vorzubringen, andererseits will er doch letztlich auch die Kirche als eine universale sehen.

Man fürchtet sich vor der Wahrheit, denn die Wahrheit ist katholisch, das heißt universal. Man will um jeden Preis eine Religion für sich allein haben, einen russischen Glauben, eine kaiserliche Kirche. Um diese selbst kümmert man sich dabei nicht, man will sie erhalten als Attribut und Sanktion des exklusiven Nationalismus (S. 69).

Die tyrannische Russifizierung (der Polen), innig verbunden mit der noch tyrannischeren Zerstörung der griechisch-unierten Kirche, ist eine im wahrsten Sinne nationale Sünde, die auf dem Gewissen Russlands lastet und seine moralischen Kräfte lähmt (S.71).

In Wahrheit sind in der Universalen Kirche die Vergangenheit und die Zukunft, die Tradition und das Ideal – weit entfernt davon, sich gegenseitig auszuschließen – in gleicher Weise wesentlich und unentbehrlich.

Das Prinzip der Vergangenheit oder der Vaterschaft ist in der Kirche im Priestertum verwirklicht, in den geistlichen Vätern, den Greisen oder Alten schlechthin (Priester von presbyteros = senior), die den himmlischen Vater auf Erden vertreten, den "Alten an Tagen". Und für die allgemeine oder katholische Kirche muss es ein allgemeines oder internationales Priestertum geben, zentralisiert und zusammengefasst in der Person eines gemeinsamen Vaters aller Völker, dem universalen Hohenpriester. (S. 78).

Das universale oder internationale Priestertum mit dem obersten Hohenpriester als dem alleinigen Zentrum bringt, es vergeistigend, das uranfängliche Zeitalter der Menschheit wieder hervor, jenes Zeitalter, da alle Völker durch gemeinsame Abstammung und gleiche religiöse Anschauungen und Lebensregeln wahrhaft geeint waren. Dies ist die wahre Vergangenheit des Menschengeschlechts, die Vergangenheit, die nicht auf der Gegenwart lastet, sondern ihr als unwandelbare Grundlage dient, welche die Zukunft nicht ausschließt, sondern mit ihr dem Wesen nach eins ist. Die wahre Zukunft der Menschheit, an der wir arbeiten müssen, ist die universale Brüderlichkeit, die aus der universalen Vaterschaft durch eine beständige moralische und soziale Sohnschaft hervorgeht ( S. 81).

Dies treue Abbild der göttlichen Trinität auf Erden (Kirche, Staat und Gesellschaft) wiederherzustellen, das ist die russische Idee (S. 91).

3. Der heilige Vladimir und der christliche Staat (1888).

Diese Schrift entstand anläßlich der Neunhundertjahrfeier der Taufe der Rus’.

Solov’ev wendet sich gegen den mit der Religion verknüpften Nationalismus, auch gegen die einseitige Weltflucht der Mönche und stellt sehr stark die von Christus gewollte Oberhoheit des römischen Papstes über alle "Cäsaren" heraus.

4. Russland und die Universale Kirche (1889)

Im Vorwort:

N.B. Als Glied der wahren und ehrwürdigen rechtgläubigen morgenländischen oder griechisch-russischen Kirche, die nicht durch den Mund einer antikanonischen Synode und nicht durch Beamte der weltlichen Macht spricht, sondern durch die Stimme ihrer großen Väter und Lehrer, erkenne ich in Sachen der Religion denjenigen als Obersten Richter, den der heilige Irenäus, der heilige Dionysius der Große, der heilige Athanasius der Große, der heilige Johannes Chrysostomus, der heilige Cyrillus, der heilige Maximus Confessor, der heilige Theodor von Studion, der heilige Ignatius usw. anerkannt haben – nämlich den Apostel Petrus, der in seinen Nachfolgern fortlebt und der nicht vergebens das Wort des Herrn vernommen hat: "Du bist Petrus, das heißt Felsen, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen. – Stärke deine Brüder. Weide meine Schafe, weide meine Lämmer". Unsterblicher Geist des seligen Apostels, unsichtbarer Diener des Herrn in der Leitung seiner sichtbaren Kirche, Du weißt, dass sie eines irdischen Leibes zu ihrer Offenbarung bedarf. (S. 187).

Die Kirche ist eine und unteilbar, aber das hindert sie nicht, verschiedene Sphären in sich zu umfassen, die man nicht trennen darf, die jedoch klar unterschieden werden müssen, weil man sonst nie zum Verstehen des Vergangenen und des Gegenwärtigen gelangt, noch auch etwas für die religiöse Zukunft der Menschheit tun können wird. Die absolute Vollkommenheit kann nur dem oberen Teil der Kirche zukommen, der sich die Fülle der göttlichen Gnade bereits endgültig zu eigen gemacht hat und in ihr aufgegangen ist (die triumphierende Kirche oder das Reich der Herrlichkeit).

Zwischen dieser göttlichen Sphäre und den rein irdischen Elementen der sichtbaren Menschheit existiert der gottmenschliche Organismus der Kirche, unsichtbar in seiner mystischen Macht und sichtbar in seinen tatsächlichen Äußerungen, der an der himmlischen Vollkommenheit wie an den Bedingungen des materiellen Daseins in gleicher Weise teilhat (S. 213).

Die Wahrheit des Gottmenschen, das heißt die vollkommene und lebendige Einheit des Absoluten und des Relativen, des Unendlichen und des Endlichen, des Schöpfers und des Geschöpfes – diese Wahrheit par excellence kann sich nicht auf eine historische Tatsache beschränken, sondern sie offenbart durch diese Tatsache ein universales Prinzip, das alle Schätze der Weisheit enthält und alles in seiner Einheit umfasst (S. 265).

Die Universale Kirche ist auf die vom Glauben bestätigte Wahrheit gegründet. Da die Wahrheit unteilbar ist, muss auch der Glaube unteilbar sein. Und da die Einheit des Glaubens nicht in der Gesamtheit aller Gläubigen tatsächlich und unmittelbar gegeben ist (denn es sind nicht alle einig in Sachen Religion), so muss sie auf der legalen Autorität eines einzigen Oberhauptes beruhen, gesichert durch den göttlichen Beistand und angenommen durch die Liebe und das Vertrauen aller Gläubigen. Dieses (Oberhaupt) ist der Fels, auf den Christus seine Kirche gegründet hat und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen (S.269).

Um das öffentliche Leben der gesamten Menschheit zu dem Ziel der göttlichen Liebe zu führen und um die öffentliche Meinung im Sinne der göttlichen Wahrheit zu bestimmen, muss es in der Kirche eine universale, von Gott autorisierte Regierung geben. Diese Regierung muss klar umrissen und sichtbar sein, damit jedermann sie erkennen vermöge, und sie muss dauerhaft sein, damit man sich jederzeit an sie wenden könne; sie muss göttlich sein in ihrem Gehalt, um sich dem religiösen Gewissen eines jeden unterrichteten und wohlgesinnten Menschen mit entscheidender Kraft aufzuerlegen, und sie muss menschlich und unvollkommen sein in ihrer geschichtlichen Sichtbarwerdung, um einen moralischen Widerstand zu ermöglichen, um Raum zu lassen für Zweifel, für den Kampf, für Versuchungen, für alles, was das Verdienst der freien und wahrhaft menschlichen Tugend ausmacht (S. 274).

Die Umwandlung des heidnischen Roms der Cäsaren (bei Cäsarea Philippi: "Petrus, liebst du mich") und "Roma – Amor" (mystischer Name und oberstes Prinzip Seines neuen Reiches) in das Zentrum der Christenheit ist kein Zufall (S. 283).

Die römisch-katholische Kirche allein ist weder ein Nationalkirche, noch eine Staatskirche, noch eine von einem Menschen gegründete Sekte. Es ist dies die einzige Kirche der Welt, die das Prinzip der sozialen universalen Einheit gegen den Egoismus der Individuen und den Partikularismus der Nationen wahrt und behauptet; es ist die einzige Kirche, welche die Freiheit der geistigen Macht gegen den Absolutismus des Staates wahrt und behauptet; es ist mit einem Wort die einzige, welche die Pforten der Hölle nicht überwältigt haben. (S. 293).

Die wahrhafte Kirche – Tempel, Leib und mystische Braut und Gemahlin Gottes – ist eine, wie Gott selber einer ist...es gibt eine wahre positive Einheit (All-Einheit, uni-plénitude), die der Vielheit nicht entgegengesetzt ist, sie nicht ausschließt... und von solcher Art soll die wahrhafte, ihrem Wesen nach universelle, das heißt in ihrer lebendigen Einheit die Menschheit und die ganze Welt umschließende Kirche sein. (S. 326).

Die Substanz der Göttlichen Dreiheit ist eine, da sie aber nicht ein Ding unter anderen, ein partikuläres Objekt sein kann, ist sie die universelle Substanz, oder das All in der Einheit. Indem Gott sie besitzt, besitzt Er in ihr alles. Sie ist die Fülle oder die absolute Ganzheit des Seins, die jeder Einzelexistenz vorausgeht und ihr überlegen ist.

Diese universelle Substanz, diese absolute Einheit des Alls ist die wesenhafte Weisheit (la sagesse universelle) Gottes (Chokma, Sofia). Sie, die in sich die verborgene Potenz (puissance) eines jeden Dinges besitzt, wird ihrerseits von Gott besessen in dreifacher Weise: "der Herr besaß mich als Anfang seiner Wege, als erstes seiner Werke" usw. (Spr 8,22,23): im ewigen Sein, im absoluten Handeln, im reinen und vollkommenen Genuss; d.h. Gott besitzt seine einige und universelle Substanz oder seine wesenhafte Weisheit als ewiger Vater, als Sohn und als Heiliger Geist. (S. 340).

Will man nicht die Idee der Gottheit selbst leugnen, so kann man keine außerhalb Gottes sich befindende, an sich seiende, reale und positive Existenz zugeben. Das Außergöttliche kann also nichts anderes sein als das umgesetzte oder ver-kehrte Göttliche (le divin transposé ou renversé) (S. 345).

(dieser Satz sagt wohl nichts anderes als dass die Schöpfung keine andere Ursache und Grundlage hat als den in Raum und Zeit und in das Nichts "entäußerten, kenotischen, verlassenen" Gottmenschen, Gesù abbandonato).

Solov’ev spricht dann von der Weltseele als Prinzip der Schöpfung, des Raumes, der Zeit und der mechanischen Kausalität. Er stellt sich diese zuerst auch als eine diesen negativen Kategorien Unterworfene vor. Doch sagt er von ihr auch:

Die Weltseele ist der Antityp der wesenhaften Weisheit Gottes. Diese Weltseele ist eine Kreatur, und zwar die erste von allen Kreaturen, die materia prima, und das wahre substratum unserer geschaffenen Welt. Da ja außerhalb Gottes nichts wirklich und objektiv bestehen kann, so kann, wie wir schon gesagt haben, die außergöttliche Welt nur die subjektiv umgesetzte und ver-kehrte göttliche Welt sein: sie ist nur ein falscher Aspekt oder eine trügerische Darstellung der göttlichen Ganzheit (d.h. mit anderen Worten essentia divina kenotica).

Doch zur Verwirklichung dieser trügerischen Existenz selbst bedarf es noch eines Subjektes, das sich auf einen falschen Blickpunkt stellt und in sich das entstellte Bild der Wahrheit hervorbringt. Da dieses Subjekt weder Gott noch Seine wesenhafte Weisheit sein kann, muss als Prinzip der Schöpfung im eigentlichen Sinne ein besonderes Subjekt, eine Weltseele angenommen werden. Als Kreatur hat sie nicht ewige Existenz in sich, aber sie existiert von aller Ewigkeit her in Gott im Zustande reiner Potenz (puissance), als verborgener Grund (base) der ewigen Weisheit. Diese mögliche und zukünftige Mutter der außergöttlichen Welt (vgl. Piero Coda "L’altro di Dio") entspricht als ideelle Ergänzung dem ewig gegenwärtig-wirklichen Vater (au Père éternellement actuel) der Gottheit. (S. 348).

In dem schon zitierten achten Kapitel der Sprüche Salomons sagt uns die wesenhafte Weisheit: "Jahwe besaß mich als Anfang (reschit, weiblich) seines Weges". Also die ewige Weisheit ist die reschit, der weibliche Anfang oder das weibliche Haupt eines jeden Seins, wie Jahwe Elohim, der Dreieinige Gott, sein rosch (männlich), sein tätiger Anfang oder sein tätiges Haupt ist. (352).

Ist sie in Gott substantiell und von aller Ewigkeit her, so wird sie zur Wirklichkeit in der Welt, verkörpert sich in ihr fortschreitend, indem sie sie zu immer vollkommener Einheit zurückführt. Die Chokma, die Sofia, die göttliche Weisheit ist nicht die Seele, sondern der Schutzengel der Welt, der über alle Geschöpfe seine Flügel ausbreitet, um sie allmählich zum wahrhaften Sein hinaufzuführen wie ein Vogel, der seine Jungen ausbrütet. Sie ist die Substanz des Heiligen Geistes, der über den finsteren Wassern der entstehenden Welt schwebte (Ruach weiblich). (353).

Es gibt im Grunde nur ein einziges menschliches Wesen. Und ist seine Vereinigung mit Gott auch notwendig dreifacher Art, so bildet sie doch nur ein einziges gott-menschliches Wesen: die inkarnierte Sofia, deren zentrale und vollkommen personhafte Äußerung Jesus Christus ist; die weibliche Ergänzung: die Heilige Jungfrau; die universelle Erweiterung: die Kirche. Die Heilige Jungfrau ist mit Gott vereinigt in einer rein empfangenden und passiven Vereinigung; wie die Erde den ersten, so hat sie den zweiten Adam geboren: - indem sie sich in vollkommener Demut selbst preisgab (s’anéantissant); es liegt hier also keine Wechselseitigkeit oder eigentliches Mitwirken vor (d.h. sola fide usw.). Was die Kirche angeht, so ist sie nicht unmittelbar mit Gott vereint, sondern durch die Fleischwerdung Christi, deren Fortsetzung sie ist. So ist allein Christus wahrhaft der Gott-Mensch, der unmittelbar und wechselseitig (aktiv) mit Gott vereinte Mensch.

Indem Gott in Seinem ewigen Gedanken die heilige Jungfrau, Christus und die Kirche betrachtete, hat Er der ganzen Schöpfung Seine absolute Billigung erteilt, indem er sie "tob meod - valde bona" nannte. Dies war der eigentliche Gegenstand der großen Freude, welche die göttliche Weisheit bei dem Gedanken an die Söhne des Menschen empfand; hier sah sie die einzig reine und unbefleckte Tochter Adams, hier sah sie den Sohn des Menschen im allereigentlichsten Sinne, den einzig Gerechten, und hier sah sie endlich die Menge der Menschen, geeint in der Form einer einzigartigen, auf Liebe und Wahrheit gegründeten Gesellschaft.

Die in der Heiligen Jungfrau, in Christus, in der Kirche mit Gott vereinte Menschheit ist die Verwirklichung der wesenhaften Weisheit oder der absoluten Substanz Gottes, ihre geschaffene Form, ihre Inkarnation. In Wahrheit ist es eine und dieselbe substantielle Form (von der Bibel als semen mulieris, scilicet Sophiae bezeichnet), die sich hervorbringt in drei aufeinanderfolgenden und unvergänglichen, in der Wirklichkeit unterschiedenen, aber in ihrem Wesen untrennbaren Äußerungen, indem sie sich Maria nennt in ihrem Personsein als Weib, Jesus in ihrem Personsein als Mann und ihren eigentlichen Namen beibehält für ihr ganzes und allumfassendes Sichtbarwerden in der vollendeten Kirche, der Zukunft, der Braut und Gemahlin des göttlichen Wortes (la Fiancée et l’Épouse du Verbe divin).

Wäre unter der substantiellen Weisheit Gottes nur ausschließlich die Person Jesu Christi zu verstehen, wie könnte man dann alle Texte der Weisheitsbücher, die über diese Weisheit sprechen, auf die Heilige Jungfrau anwenden? Nun ist diese Anwendung, die seit ältesten Zeiten in den Gottesdiensten der lateinischen wie der griechischen Kirche üblich war, in unseren Tagen durch die Bulle Pius IX über die Unbefleckte Empfängnis der Heiligsten Jungfrau ausdrücklich als Kirchenlehre betätigt.

Andererseits gibt es Schrifttexte, die von den orthodoxen und katholischen Lehrern einmal auf die Heilige Jungfrau und dann auch die Kirche bezogen werden (zum Beispiel die Stelle der Apokalypse über die Frau mit der Sonne bekleidet, von Sternen gekrönt und mit dem Mond zu ihren Füßen). Schließlich läßt sich das enge Band und die vollkommene Analogie zwischen dem individuellen und dem sozialen Menschsein Christi, zwischen Seinem natürlichen und Seinem mystischen Leibe nicht bezweifeln. Im Sakrament der Kommunion wird der personhafte Leib des Herrn auf eine geheimnisvolle Weise, aber doch wirklich zum einenden Prinzip seines Gesamtleibes – der Gemeinschaft der Gläubigen. So hat die Kirche, die vergöttlichte menschliche Gesellschaft, im Grunde die gleiche Substanz wie die fleischgewordene Person Christi, Sein individuelles Menschsein – und da diese nun keinen anderen Ursprung und kein anderes Wesen hat als die menschliche Natur der Heiligen Jungfrau, der Mutter Gottes, so folgt, dass der Organismus der gott-menschlichen Inkarnation, der in Jesus Christus seinen personhaft-aktiven Mittelpunkt besitzt, auch in seiner dreifachen Äußerung eine und dieselbe Substanz zur Grundlage hat – die Leibhaftigkeit der göttlichen Weisheit, verhüllt und offenbart in der niederen Welt: es ist die vollkommen bekehrte, gereinigte und mit der Weisheit selbst eins gewordene Weltseele, eins geworden so wie die Materie mit der Form in einem konkreten Wesen eins wird. Und die vollkommene Verwirklichung dieser göttlich-materiellen Substanz, dieses semen mulieris - das ist die verherrlichte und auferweckte Menschheit – der Tempel, der Leib und die Gemahlin Gottes (l’Épouse de Dieu). (S. 366/368).

Die christliche Wahrheit unter diesem endgültigen Aspekt – die ganze und konkrete Inkarnation der Gottheit – hat die religiöse Seele des russischen Volkes von Anfang an, seit den Zeiten seiner Bekehrung zum Christentum, in besonderer Weise angezogen. Indem es seine ältesten Kirchen der heiligen Sophia, der substantiellen Weisheit Gottes weihte, hat es dieser Idee einen neuen, den Griechen (welche die Sofia mit dem LogoV identifizierten) unbekannten Ausdruck verliehen - obwohl die religiöse Kunst unserer Vorfahren die heilige Sophia in ganz nahe Beziehung zur Mutter Gottes und zu Jesus Christus brachte, unterschied sie sie doch von der einen wie vom andern und stellte sie dar mit den Zügen eines besonderen göttlichen Wesens. Die heilige Sophia war für unsere Vorfahren die durch die Scheingebilde (les apparences) der niederen Welt verhüllte himmlische Wesenheit (essence), der lichte Geist der wiedergeborenen Menschheit, der Schutzengel der Erde, die zukünftige und endgültige Erscheinung (apparition) der Gottheit.

So hat das russische Volk neben der individuellen menschlichen Form des Göttlichen – neben der jungfräulichen Mutter und dem Sohne Gottes – unter dem Namen der heiligen Sophia auch die soziale Inkarnation der Gottheit in der Universalen Kirche gekannt und geliebt. – Dieser dem religiösen Gefühl unserer Vorfahren offenbarten, - dieser wahrhaft nationalen und absolut universalen Idee müssen wir jetzt einen rationalen Ausdruck verleihen. Es handelt sich darum, das lebendige Wort zu formulieren, welches das alte Russland empfangen und das neue Russland der Welt zu sagen hat. (S. 369).

Alle Völker (oder fast alle) kennen in ihren Religionen die Idee eines göttlichen Weibes und eines göttlichen Mannes, einer jungfräulichen Mutter und eines Gottessohnes, der auf die Erde herabsteigt, um zu kämpfen gegen die Kräfte des Bösen, zu leiden und zu siegen. Aber es läßt sich nicht leugnen, dass diese überall verbreiteten Ideen Gestalt gewonnen, dass sie sich wirklich hypostasiert haben nur im Schoße des jüdischen Volkes, in den beiden historischen Persönlichkeiten der Jungfrau Maria und Jesu Christi. (S. 385).

Die Liebe ist die Kraft, die uns die Grenzen unserer gegebenen Existenz innerlich überschreiten läßt, uns durch ein unlösbares Band mit dem All vereint und, indem sie uns wirklich zu Kindern Gottes macht, uns teilhaben läßt an der Fülle seiner wesenhaften Weisheit und am Genuss Seines Geistes. Das Werk der Liebe ist die Herstellung der Ganzheit (intégration) des Menschen und, durch den Menschen, der gesamten geschaffenen Existenz. (S. 416).

Die Ganzheit des universellen Menschen wird hergestellt durch die göttliche Liebe, die den Menschen nicht nur hinaufhebt bis zu Gott, sondern, indem sie ihn innerlich mit der Gottheit einswerden läßt, ihm die Fähigkeit gibt, in ihr alles Seiende zu umfassen, wobei sie ihn mit der ganzen Schöpfung in unlöslicher und ewiger Einheit verbindet. (S. 419).

Der Kreis der Sakramente schließt sich ebenso wie der Kreis des universellen Lebens durch die Auferstehung des Fleisches, durch die Vollendung der Ganzheit der gesamten Menschheit, durch die endgültige Inkarnation der göttlichen Weisheit. (S. 419 ENDE).

Einige Gedanken aus Band VII
der Deutschen Gesamtausgabe
Die Schönheit als Offenbarung der All-Einheit

1. Die Schönheit in der Natur (1889)

Die Schönheit wird die Welt retten (Dostojewskij). Seltsam erscheint es, die Rettung der Welt von der Schönheit zu erwarten, während man genötigt ist, die Schönheit selbst vor den künstlerischen und kritischen Versuchen zu retten, die das Ideal-Schöne durch das Real-Hässliche zu ersetzen suchen (S. 119).

In der Schönheit – sogar bei ihren einfachen und primären Erscheinungen – begegnen wir etwas unbedingt Wertvollem, das nicht wegen einem anderen, sondern um seiner selbst willen da ist, das allein durch sein Dasein unsere Seele erfreut und befriedigt, die durch Schönheit beruhigt und von den Bestrebungen und Mühen des Alltags befreit wird (S. 124).

Wenn wir sehen, dass die Schönheit des Diamanten gänzlich von der Durchlichtung seines Stoffes abhängt, der Lichtstrahlen in sich festhält und zergliedert (entwickelt), so müssen wir die Schönheit definieren als Verwandlung der Materie durch die Verkörperung des anderen, des übernatürlichen Prinzips in ihr (S. 128).

Verkörperte Idee. Die Schönheit oder verkörperte Idee ist die bessere Hälfte unserer realen Welt, gerade die Hälfte der Welt, die nicht nur existiert, sondern auch das Dasein verdient. Wir nennen überhaupt dasjenige eine Idee, was an und für sich würdig ist, zu sein. Unbedingt gesprochen ist des Daseins würdig nur das allvollkommene oder absolute Wesen, das völlig frei von allen Beschränkungen und Mängeln ist. Partielle oder beschränkte Existenzen, die an und für sich kein würdiges oder ideales Sein besitzen, werden seiner durch ihre Beziehung zum Absoluten im Weltprozess teilhaftig, der ja die allmähliche Verkörperung der Idee des Seins ist (S. 131).

Die Idee ist die völlige Freiheit der Bestandteile in der vollkommenen Einheit des Ganzen (S. 132). Das Kennzeichen für ein würdiges und ideales Sein überhaupt ist die größte Selbständigkeit der Teile bei größter Einheit des Ganzen (S. 133).

Einerseits sind die organischen Arten Stufen (teils vergehende, teils beharrende) des allgemeinen biologischen Prozesses, der vom Schimmeln des Wassers bis zur Erschaffung des menschlichen Körpers reicht, andererseits aber kann man diese Arten als Glieder des universalen Organismus ansehen, die eine selbständige Bedeutung im Leben des Ganzen haben (S. 146).

Wenn überhaupt die Schönheit in der Natur objektiv ist, so muss sie auch eine gewisse allgemeine ontologische Grundlage haben, muss sie – auf verschiedenen Stufen und in verschiedenen Gestalten – die sinnliche Verkörperung der einen absolut-objektiven all-einigen Idee sein.

In offenkundigem Widerstreit mit dem urtümlichen Chaos und in geheimem Einvernehmen mit der Weltseele oder Natur, die von diesem Chaos zerrissen wird - und die mehr und mehr den gedanklichen Eingebungen des schöpferischen Prinzips nachgibt – schafft der kosmische Geist in dieser Natur und durch sie den komplizierten und prachtvollen Körper unseres Weltalls. Diese Schöpfung ist ein Prozess, der zwei eng miteinander verbundene Ziele hat, ein allgemeines und ein besonderes. Das allgemeine ist die Verkörperung der realen Idee, das heißt des Lichtes und des Lebens in den verschiedenen Formen der natürlichen Schönheit; das besondere Ziel aber ist die Erschaffung des Menschen, das heißt derjenigen Form, die zugleich mit der größten körperlichen Schönheit auch die höchste innere Potenzierung von Licht und Leben darstellt, welche Selbstbewusstsein heißt. Schon in der Welt der Tiere wird, wie wir soeben sahen, das allgemeine kosmische Ziel unter ihrer Teilnahme und Mitwirkung durch Erregung von gewissen inneren Trieben und Gefühlen erreicht. Die Natur gestaltet und schmückt die Tiere nicht von außen her, sondern drängt sie, sich selbst zu gestalten und zu schmücken. Und schließlich nimmt der Mensch an dem Wirken der kosmischen Prinzipien nicht nur teil, sondern er ist befähigt, das Ziel dieses Wirkens zu wissen und folglich sich um dessen Erreichung sinnvoll und frei zu mühen. Wie das menschliche Selbstbewusstsein sich zum Selbstgefühl der Tiere verhält, ebenso verhält sich die Schönheit in der Kunst zur natürlichen Schönheit (S. 167).

2. Der allgemeine Sinn der Kunst (1890)

Alles das ist hässlich, wo ein Teil maßlos wuchert und vor den anderen vorherrscht, wo Einheit und Ganzheit fehlt und schließlich, wo es keine freie Mannigfaltigkeit gibt. Die anarchische Vielfalt ist dem Guten, der Wahrheit und der Schönheit ebenso entgegengesetzt, wie die tote, erdrückende Einheit: der Versuch, letztere für die Sinne zu realisieren, läuft auf die Vorstellung unendlicher Leere hinaus, der alle besonderen und bestimmten Gestaltungen des Seins fehlen, das heißt auf die reine Hässlichkeit (Bezobrázije heißt "Hässlichkeit", bezóbraznostj heißt Bild-, Form-, Gestaltlosigkeit").

Die volle sinnliche Verwirklichung dieser allgemeinen Solidarität oder positiven All-Einheit, diese vollkommene Schönheit, nicht als Widerspiegelung der Idee durch die Materie, sondern als ihre tatsächliche Anwesenheit in dieser, setzt vor allem die tiefste und engste Wechselwirkung zwischen dem inneren oder geistigen und dem äußeren oder stofflichen Dasein voraus (S. 178).

Dass etwas vollkommen schön sei, dazu ist also erforderlich: erstens die unmittelbare Materialisierung des geistigen Wesens und zweitens die völlige Durchgeistigung der materiellen Erscheinung als einer eigenen untrennbaren Form des idealen Inhalts. – An diese zweifache Bedingung schließt sich notwendig an, oder, besser gesagt, ihr entspringt eine dritte: bei unmittelbarer und untrennbarer Vereinigung von geistigem Gehalt mit sinnlichem Ausdruck in der Schönheit, bei ihrer vollen gegenseitigen Durchdringung muss die materielle Erscheinung – indem sie wirklich schön geworden ist, das heißt nachdem sie tatsächlich die Idee verkörpert hat – ebenso bleibend und unsterblich werden, wie die Idee selbst (S. 179) (s. Maria Assumpta).

3. Der Sinn der Liebe (1882 – 1894)

In Gott und in der von ihm geschaffenen Welt, wie sie vor dem Sündenfall bestand und am Ende der Zeiten neu erstehen soll, herrscht absolute Harmonie – Gott ist in allen Wesen, und alle Wesen sind in Gott. In der göttlichen Weisheit, welche die All-Einheit von Ewigkeit her in sich enthält und die gefallene Schöpfung zu ihr zurückführt, ist das letzte Geheimnis der Liebe enthalten (Einleitung des Übersetzers). Die wahre Liebe ist nicht eine schwache Nachahmung und Vorwegnahme des Todes, sondern ein Triumph über den Tod; nicht die Trennung des Unsterblichen vom Sterblichen, des Ewigen vom Zeitlichen, sondern die Verwandlung von Sterblichem in Unsterbliches, die Aufnahme von Zeitlichem in Ewiges. Die falsche Geistigkeit ist Verneinung des Leibes, die wahre Geistigkeit ist dessen Wiedergeburt, Rettung und Auferstehung (S. 248).

Gott erhält von der Kreatur nichts für sich, sondern gibt ihr alles; Christus erhält von der Kirche keinerlei Zuwachs im Sinne der Vollkommenheit, sondern gibt ihr alle Vollkommenheit, aber Er erhält von der Kirche Zuwachs in dem Sinne der Fülle Seines kollektiven Leibes; der Mensch (Mann) schließlich und sein weibliches alter ego ergänzen sich gegenseitig nicht nur im realen, sondern auch im idealen Sinn, indem sie die Vollkommenheit nur durch Wechselwirkung erreichen (S. 249).

Einer gegebenen Person unbedingte Bedeutung zuerkennen oder an sie glauben (wahre Liebe ist ohne dies unmöglich), das kann ich nur, indem ich sie in Gott bejahe, folglich, indem ich an Gott selbst und an mich als jemand glaube, der den Mittelpunkt und die Wurzel seines Seins in Gott hat. Dieser dreieinige Glaube ist schon ein bestimmter innerer Akt, und durch ihn wird die erste Grundlage zur wahren Wiedervereinigung des Menschen mit seinem Anderen und zur Wiederherstellung des Abbildes des Dreieinigen Gottes in ihm (oder in ihnen) gelegt. Da für Gott, den Ewigen und Unteilbar-Einen, alles zusammen und auf einmal ist, alles in einem, so bedeutet die Bejahung irgendeines individuellen Wesens in Gott, dass man es nicht in seiner Besonderheit, sondern in allem oder genauer: in der Einheit des Alls bejaht. Da aber dieses individuelle Wesen in seiner gegebenen Wirklichkeit nicht in die Einheit des Alls eingeht, da es getrennt von ihm existiert, als eine materiell abgesonderte Erscheinung, so unterscheidet sich der Gegenstand unserer gläubigen Liebe notwendigerweise von dem empirischen Objekt unserer instinktiven Liebe, wenn er auch untrennbar mit ihm verbunden ist. Es ist ein und dieselbe Person in zwei verschiedenen Gestalten oder in zwei verschiedenen Sphären des Seines, der idealen und der realen. Die erstere ist einstweilen nur eine Idee. Aber in der wahren, gläubigen, sehenden Liebe wissen wir, dass diese Idee nicht unser Hirngespinst ist, sondern dass sie die Wahrheit des Gegenstandes ausdrückt, die nur in der Sphäre der äußeren realen Erscheinungen noch nicht verwirklicht ist (S. 252).

In der Wahrheit ist die individuelle Person bloß ein lebendiger und wirklicher Strahl, aber ein nicht abtrennbarer Strahl einer idealen Leuchte – der all-einen Wesenheit. Diese ideale Person oder die personifizierte Idee ist nur die Individualisierung der All-Einheit, die unteilbar in jeder dieser Individualisationen anwesend ist. Und so teilt sich uns, wenn wir uns die ideale Form des geliebten Gegenstandes vorstellen, die all-einige Wesenheit mit (S. 253).

Gott, der Einzige, der alles, was nicht Er selbst ist, als sein Anderes von sich unterschiedet, vereinigt dies alles mit sich, indem Er es sich zusammen und zugleich in der absolut vollkommenen Form, folglich als Eines vorstellt. Diese andere Einheit, von der ursprünglichen Einheit Gottes verschieden, wenn auch nicht von ihr abtrennbar, ist in bezug auf Gott eine passive, weibliche Einheit, da hier die ewige Liebe (die reine Potenz) die Fülle des göttlichen Lebens empfängt. Wenn aber im Grunde dieser ewigen Weiblichkeit das reine Nichts liegt, so ist für Gott dieses Nichts ewig durch das Bild der absoluten Vollkommenheit verdeckt, das sie von der Gottheit empfängt. Diese Vollkommenheit, die sich für uns verwirklicht, ist für Gott, das heißt in der Wahrheit schon tatsächlich vorhanden. Die ideale Einheit, nach der unsere Welt strebt und die das Zielt des kosmischen und geschichtlichen Prozesses bildet, kann nicht ausschließlich und allein subjektiver Begriff irgend jemandes sein (wessen auch?); sie ist wahrhaftig da, als ewiger Gegenstand der Liebe Gottes (s. Immaculata), als sein (das heißt Gottes) ewiges Anderes. Dieses lebendige Ideal der göttlichen Liebe enthält, indem es unserer Liebe vorangeht, in sich das Geheimnis ihrer Idealisierung. Hier ist die Idealisierung des niederen Wesens zugleich die beginnende Realisierung des höheren, und darin besteht die Wahrheit des Liebespathos. Die volle Realisierung aber, die Verwandlung des individuellen weiblichen Wesens in einen von seiner hellstrahlenden Quelle untrennbaren Strahl der ewigen göttlichen Weiblichkeit, wird eine wirkliche nicht nur subjektive, sondern auch objektive Wiedervereinigung des individuellen Menschen mit Gott, die Wiederherstellung des lebendigen und unsterblichen Ebenbildes Gottes in ihm sein (s. 254).

Für Gott hat sein Anderes (das Weltall) von Ewigkeit her die Gestalt der vollkommenen Weiblichkeit, aber Er will, dass diese Gestalt nicht nur für Ihn da sei, sondern, dass sie sich für jedes individuelle Wesen realisiere und verkörpere, das fähig ist, sich mit ihr zu vereinigen. Zu gleicher Realisierung und Verkörperung strebt auch die ewige Weiblichkeit selbst, die nicht nur eine untätige Gestalt im Intellekt Gottes ist, sondern ein lebendiges geistiges Wesen, das über die ganze Fülle der Kräfte und Wirkungen verfügt. Der gesamte kosmische und historische Prozess ist ein Prozess ihrer Realisierung und Verkörperung in großer Mannigfaltigkeit der Formen und Grade (S. 255).

Unser persönliches Anliegen ist, sofern es wahr ist, das gemeinsame Anliegen der ganzen Welt – die Realisierung und Individualisierung der all-einigen Idee und die Durchgeistigung der Materie. Sie wird durch den kosmischen Prozess in der natürlichen Welt vorbereitet, durch den geschichtlichen Prozess in der Menschheit fortgesetzt und vollendet. Die Tatsache, dass wir die allseitige Verbindung der konkreten Einzelheiten in der Einheit des Ganzen nicht kennen, lässt uns hierbei die Freiheit des Handelns, die mit allen ihren Folgen schon von Ewigkeit her in den absoluten allumfassenden Plan eingegangen ist.

Die all-einige Idee kann sich endgültig nur in der Fülle vollkommener Individualitäten realisieren und verkörpern. Das letzte Ziel also des gesamten Geschehens ist die höchste Entwicklung jeder Individualität in der vollsten Einheit aller. Dies schließt aber notwendig auch unser Lebensziel in sich ein. Wir haben folglich weder Anlass noch die Möglichkeit, dieses Ziel vom allgemeinen Ziel abzutrennen oder zu isolieren. Die Welt hat uns ebenso nötig wie wir sie; das All ist seit Ewigkeit an der Erhaltung, Entwicklung und Verewigung alles dessen interessiert, was für uns wirklich nötig und wünschenswert ist, alles Positive und Würdige in unserer Individualität, und es bleibt uns nur übrig, möglichst bewusst und tätig am allgemeinen geschichtlichen Prozess teilzunehmen – für uns selbst und für alle Anderen untrennbar (S. 263).

In der Bibel werden Städte, Länder, das Volk Israel und danach auch die ganze wiedergeborene Menschheit oder die ökumenische Kirche in den Gestalten weiblicher Individualitäten dargestellt, und dies ist nicht eine reine Metapher (S. 270).

Die Herstellung des wahren Liebesverhältnisses, eines syzygischen Verhältnisses des Menschen nicht nur zu seiner sozialen, sondern auch zu seiner natürlichen und kosmischen Umwelt, dieses Ziel ist an und für sich klar. Von den Wegen zu diesem Ziel für den einzelnen Menschen kann man das nicht sagen. Ohne sich voreilig mit zweifelhaften und schwierigen Einzelbetrachtungen zu befassen, kann man, gestützt auf feststehende Analogien der kosmischen und geschichtlichen Erfahrung, mit Gewissheit behaupten, dass eine jede bewusste menschliche Tätigkeit, die von der Idee der universalen Syzygie bestimmt ist und das Ziel hat, das all-einige Ideal in dieser oder jener Form zu verkörpern, dadurch tatsächlich reale geistig-körperliche Ströme erzeugt oder freimacht, die allmählich von der materiellen Substanz Besitz ergreifen, sie vergeistigen und in ihr diese oder jene Bilder der All-Einheit verkörpern – die lebendigen und ewigen Ebenbilder des absoluten Menschentums. Die Kraft aber dieses geistig-körperlichen Schaffens im Menschen ist allein die Verwandlung oder Wendung nach innen eben jener schöpferischen Macht, die in der Natur, nach außen gewandt, die schlechte Unendlichkeit der physischen Vermehrung der Organismen hervorbringt (S. 272 ENDE).

Einige Gedanken aus Band VIII
der Deutschen Gesamtausgabe
Die Idee der Menschheit bei Auguste Comte (1889).

Obwohl Solov’ev dessen atheistische und antichristliche Haltung ganz ablehnt und darüber auch in seiner Magisterdissertation harte Worte hatte, so will er nun in seiner Rede zum 100. Todestag von Auguste Comte die positive Seite seines Denkens aufzeigen.

Comte ist nicht nur von der wirklichen Existenz der einen Menschheit überzeugt, sondern er sieht in ihr auch die Existenz im vorzüglichen Sinn und nennt sie direkt "la suprà me existence".

"Das »Große Wesen« vereinigt in sich (nicht im Sinne einer Summe, sondern im Sinne einer wirklichen Ganzheit oder einer lebendigen Einheit) alle Wesen, die frei mitwirken an der Vervollkommnung der Weltordnung. Indem wir den Begriff der realen Ordnung nur zu vervollständigen suchen, errichten wir von selbst jene Einheit, die ihr entspricht.

Entsprechend der objektiven Unterordnung, die die allgemeine Hierarchie der Erscheinungen charakterisiert, wird die Weltordnung im wesentlichen reduzierbar auf die menschliche Ordnung, die letzte Grenze aller bemerkbaren Einflüsse" (S. 350).

»Ein vertieftes Studium der Weltordnung«, sagt er, »offenbart uns in ihr die überwältigende Existenz des wahren Großen Wesens, dessen Bestimmung es ist, diese Ordnung ununterbrochen zu vervollkommnen, indem es sich immer mehr mit ihr in Übereinstimmung bringt, und das dadurch auf die beste Weise die wahre Gesamtheit dieser Ordnung repräsentiert.

Diese unbestreitbare Vorsehung, die Vollenderin unseres Schicksals, wird auf natürliche Weise zum gemeinsamen Mittelpunkt unserer Gefühle, unserer Gedanken und unserer Handlungen. Obwohl dies Große Wesen offensichtlich jede menschliche Kraft, sogar die kollektive, übertrifft, bewirken seine notwendige Konstitution - sa constitution nécessaire - und sein eigenes Schicksal doch, dass es im höchsten Grade mitfühlend ist mit allen, die ihm dienen« (S. 352).

Das Große Wesen der Comteschen Religion hat außer seiner vollen Realität, Macht und Weisheit, die es zu unserer Vorsehung machen, noch ein ständiges Merkmal: Es ist ein weibliches Wesen. Das ist nicht eine Metapher oder die Personifizierung eines unpersönlichen Begriffs in der Art, wie die verschiedenen Tugenden, Künste und Wissenschaften in der klassischen Mythologie in der Gestalt von Frauen dargestellt werden. Aus der vorausgehenden Darlegung, in der ich Comtes eigene Worte angeführt habe, ist hinreichend klargeworden, dass das Große Wesen für diesen Philosophen nicht ein abstrakter Begriff war.

Er unterschied klar zwischen der Menschheit als der Gesamtheit ihrer Elemente: der Völker, der Familien und der Einzelpersonen - das ist bei ihm humanité (mit kleinem »h«) - und der Menschheit als wesenhaftem, wirklichem und lebendigem Prinzip der Einheit aller dieser Elemente - Humanité (mit großem »H«) ou le Grand Être. Und eben in diesem hauptsächlichen Sinne ist die Menschheit zwar hinsichtlich dessen, woraus sie besteht, von kollektivem Charakter; an und für sich aber ist sie mehr als ein Kollektivname - sie besitzt eine eigene Existenz.

Es ist klar, dass hier nicht von einem Begriff, sondern von einem Wesen die Rede ist - und zwar von einem vollkommen wirklichen, und wenn nicht von einem ganz und gar persönlichen im Sinne der empirischen menschlichen Person, so noch weniger von einem unpersönlichen. Um es mit einem Wort zu sagen: Dies Wesen ist überpersönlich; aber besser sagt man das mit zwei Worten: Das Große Wesen ist nicht ein personifiziertes Prinzip, sondern eine Prinzipielle Person oder eine Person, die ein Prinzip ist, nicht eine personifizierte Idee, sondern eine Person, die eine Idee ist (S. 354).

Es springt in die Augen, wie nahe Comtes Religion der Menschheit, die sich darstellt in dem Großen Wesen weiblichen Geschlechts, sich mit dem mittelalterlichen Kult der Madonna berührt. Merken wir noch ein interessantes Zusammentreffen an. Gerade zu der Zeit, als in Paris Comte die Darlegung seiner Religion mit ihrer Erhöhung des weiblichen, effektiven Prinzips der menschlichen Natur und Sittlichkeit veröffentlichte, erfuhr in Rom der tausendjährige Kult der Madonna seine theologische Vollendung in der dogmatischen Definition des Papstes Pius IX. von der Unbefleckten Empfängnis der Hochheiligen Jungfrau (1854) (S. 354).

Aber der alte Kult des ewig weiblichen Prinzips hat eine historische Erscheinungsform, von der Comte überhaupt nicht hat wissen können und die doch näher als alle andern sowohl an das Wesen der Sache wie auch an die Gedanken dieses Philosophen herankommt.

Als eingefleischter Westler wäre Auguste Comte sehr erstaunt gewesen, wenn ihm jemand gesagt und nachgewiesen hätte, dass er in seinem Grand Être das formuliert hat was mit besonderer Gewissheit und Deutlichkeit - wenn auch ohne jedes verstandesklare Verstehen - durch die religiöse Inspiration des russischen Volkes bereits im 11. Jahrhundert seinen Ausdruck gefunden hatte, so dass die zentrale Idee von Comtes religion positive eben jene Seite des Christentums darstellt, von der her die russische Seele das Christentum einst aufgenommen hat - wenn nicht mit klarem Bewusstsein, so doch mit dem Gefühl; und obwohl dieses Gefühl oder dieses Vorgefühl [den alten Russen] nur in geringem Grad bewusst geworden ist, hat es [bei ihnen] doch alsbald einen angemessenen plastischen Ausdruck gefunden.

Wenn Comte zufällig in eine alte, verlassene, kleine Stadt gekommen wäre, die einstmals eine "Neue" und eine "Große" gewesen ist, dann hätte er mit eigenen Augen eine wahrhafte Darstellung seines Grand Être sehen können - eine genauere und vollständigere, als alle die waren, die er im Westen zu sehen bekam. Weil nicht nur Comte nichts von diesem Erzeugnis des altrussischen Schöpfertums wusste, sondern auch unter Ihnen (Solov’ev spricht zu seinen Zuhörern) kaum jemand sein dürfte, der ihm seine Aufmerksamkeit geschenkt hätte, muss ich Ihnen seinen Sinn erklären. Dabei ist am bemerkenswertesten, dass die Hauptgestalt des Bildes dargestellt wird zusammen mit allen anderen, die ihr verwandt und nahe sind und die gewöhnlich mit ihr verwechselt werden - aber dargestellt in einer Weise, dass sie sich allseitig von ihnen abhebt und absondert, so dass keinerlei Verwechslung denkbar ist.

In der Mitte des Hauptbildes in der alten Novgoroder Kathedrale (aus den Zeiten Jaroslavs des Weisen) sehen wir eine eigentümliche weibliche Figur in königlicher Kleidung, auf einem Thron sitzend. Ihr zur Seite, mit dem Gesicht zu ihr gewandt und in gebeugter Haltung, stehen rechts die Muttergottes byzantinischen Typs, links der hl. Johannes der Täufer; über der auf dem Thron Sitzenden erhebt sich Christus mit erhobenen Händen, und über ihm ist die Welt des Himmels zu sehen in der Person einiger Engel, die das Wort Gottes umgeben, das in der Gestalt eines Buches, des Evangeliums, dargestellt ist.

Wen stellt diese Hauptperson dar, die in königlichem Gewand in der Mitte des Bildes thront, die sich offenkundig sowohl von Christus wie auch von der Muttergottes und den Engeln unterscheidet? Das Bild heißt: Bild der Sophia, der Weisheit Gottes. Aber was bedeutet das? Schon im 14. Jahrhundert richtete ein russischer Bojar diese Frage an den Erzbischof von Novgorod, bekam aber keine Antwort; der Erzbischof gab zu, es nicht zu wissen. Dabei verehrten unsere Vorfahren doch aber diese rätselhafte Person wie einst die Athener den »unbekannten Gott« , bauten überall Sophienkirchen und -kathedralen, bestimmten Feier und Gottesdienst, in denen in unbegreiflicher Weise Sophia, die Weisheit Gottes, bald Christus, bald der Muttergottes angenähert wird, wobei eben durch diese Annäherung an beide eine volle Gleichsetzung mit Christus oder mit der Gottesmutter ausgeschlossen wird; denn es ist doch klar, dass, wenn es Christus wäre, es nicht die Muttergottes, und wenn es die Muttergottes wäre, es nicht Christus sein könnte.

Und nicht von den Griechen haben unsere Vorfahren diese Idee übernommen; denn bei den Griechen, in Byzanz, wurde nach allen Zeugnissen, die wir haben, die Weisheit Gottes, h Sofia tou Qeou, entweder als allgemeines, abstraktes Attribut der Gottheit verstanden, oder sie wurde als Synonym für das ewige Wort Gottes, den Logos, genommen. Die Ikone der Novgoroder Sophia selbst hat keinerlei griechisches Vorbild - sie ist ein Werk unseres eigenen religiösen Schöpfertums. Dessen Sinn war den Bischöfen des 14. Jahrhunderts unbekannt, aber wir können ihn jetzt enträtseln.

Dieses Große, königliche und weibliche Wesen, das nicht Gott ist und auch nicht der ewige Sohn Gottes oder ein Engel oder ein heiliger Mensch, das von dem Vollender des Alten Testaments und von der Stammutter des Neuen Verehrung empfängt - wer ist es, wenn nicht die wahrste, reinste und vollste Menschheit, die höchste und allumfassende Form und lebendige Seele der Natur und des Alls, ewig vereinigt mit der Gottheit und im zeitlichen Prozess sich mit ihr vereinigend und alles mit ihr vereinigend, was ist. Es gibt keinen Zweifel, dass hierin der volle Sinn des Großen Wesens besteht, den Comte zur Hälfte erfühlt, zur Hälfte bewusst erfasst hat und den unsere Vorfahren, die frommen Erbauer der Sophienkirchen, in seiner Gesamtheit erfühlt, aber überhaupt nicht bewusst erfasst haben (S. 357).

Comte hatte einen Instinkt, der die Wahrheit erriet, als er dem Großen Wesen weiblichen Charakter zuschrieb. Als etwas, was zwischen dem Begrenzten und dem Unbedingten steht, das an dem einen wie an dem anderen teil hat, ist es (das Große Wesen) seiner Natur nach ein Prinzip der Zweiheit - h aoristoV duaV der Pythagoräer - die allgemeinste ontologische Definition der Weiblichkeit. Die Menschheit ist eben jene höchste Form, durch die und in der alles Existierende absolut wird - die Form der Vereinigung der materiellen Natur mit der Gottheit. Das Große Wesen ist die universale Natur als eine das Göttliche empfangende - noch ein anderer Grund, ihr weiblichen Charakter zuzuerkennen.

Es ist klar, dass die wahre Menschheit, als die universale Form der Vereinigung der materiellen Natur mit der Gottheit oder als die Form der Empfängnis der Gottheit durch die Natur, notwendigerweise Gottmenschheit und Gottmaterie ist.

Sie kann nicht einfach Menschheit sein, weil das bedeuten würde, dass sie ein Empfangendes wäre ohne das, was empfangen wird, Form ohne Inhalt oder eine leere Form.

Das Große Wesen ist nicht eine leere Form, sondern die allumfassende gottmenschliche Fülle des geistig-leiblichen, göttlich-kreatürlichen Lebens, das sich uns im Christentum offenbart hat. Comte hatte nur einen halben, nicht zu Ende gedachten und nicht zu Ende gesprochenen Begriff vom wahren Großen Wesen, aber er glaubte, ohne dass er sich Rechenschaft darüber hätte geben können, an seine Fülle und legte, ohne es zu wollen, Zeugnis von ihr ab. Aber wie viele gläubige Christen hat es gegeben und gibt es, die von diesem Allerwesentlichsten am Christentum nichts gewusst haben und nichts wissen, nichts haben wissen wollen und nichts wissen wollen, während der Gottlose und der Nichtchrist Comte diesem Wesentlichsten am Christentum mit halbem Verstehen, aber mit ganzem Herzen anhing! (S. 358).

Wenn die bevollmächtigten Vertreter des Christentums ihre Aufmerksamkeit darauf konzentrieren werden, dass unsere Religion vor allem und vorzüglich eine gottmenschliche Religion ist und dass die Menschheit nicht irgendeine Beigabe, sondern eine zu seinem Wesen gehörende, seine Gestalt bestimmende Hälfte der Gottmenschheit ist, dann werden sie sich entschließen, aus ihrem historischen Pantheon einiges Unmenschliche auszuschließen, was im Laufe so vieler Jahrhunderte zufällig dort hineingeraten ist, und statt dessen etwas mehr an Menschlichem hineintun. Dann wird man sich auch an den Denker erinnern müssen, der - ungeachtet großer Verirrungen und der Beschränktheit seines theoretischen Horizonts - stärker als alle Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts diese im historischen Christentum nicht immer genügend gewürdigte menschliche Seite der Religion und des Lebens empfunden und hervorgehoben hat - nicht in der einen oder anderen besonderen Hinsicht, sondern in allem, was zu dieser menschlichen Seite der Religion gehört: nämlich nicht nur der jeweils lebende Teil der Menschheit, sondern darüber hinaus auch ihr dahingegangener und ihr kommender Teil. Und dann wird es, ohne dass man seinen Kalender, der nun schon gar zu menschlich ist, annimmt, möglich sein, ihn für eine gewisse Erweiterung unseres eigenen Kalenders zu benutzen und vor allem den Namen eben dieses Auguste Comte da hineinzubringen - der Verdienste willen, die er, ohne das selbst zu wissen, der Sache der Entwicklung des christlichen Bewusstseins erwiesen hat, indem er in ihm unter neuen Namen alten und ewigen Wahrheiten zur Wiedergeburt verholfen hat: der Grundwahrheit von dem kollektiven Wesen oder der Seele der Welt, deren einfachster Name in christlicher Sprache »Kirche« ist, und die abschließende Wahrheit von dem Leben der Verstorbenen.

Darum hat jene Weisheit, die »nicht in eine boshaftige Seele kommt«, in der Seele dieses Menschen Platz für sich gefunden und ihm verliehen, dass er ein, wenn auch nur halbbewusster Vorverkünder der hohen Wahrheiten von dem Großen Wesen und von der Auferstehung der Toten gewesen ist (S. 363 ENDE).

Einige Gedanken aus Band IX
der Deutschen Gesamtausgabe
Drei Begegnungen: Moskau - London - Ägypten (1862 – 1875 - 1876)

In dem Gedicht "Drei Begegnungen" schildert Solov’ev in poetischer Form, wie er dreimal die Sophia schauen durfte. Er selbst sagt zu diesem Gedicht, "Ich habe hier das Bedeutsamste, was bisher mit mir in meinem Leben geschehen ist, in scherzhaften (sic!, damit untertreibt er) Versen dargestellt". "Zwei Tage lang erhoben sich unaufhaltsam Erinnerungen und Zusammenklänge in meinem Bewusstsein, und am dritten Tag war diese kleine Autobiographie fertig, die bei einigen Dichtern und einigen Damen Gefallen fand". (BG S. 267/100, Anm. S. 350)

Bei der Wiedergabe des Gedichtes wurden einige Strophen ausgelassen.

Ein Poem
Im voraus schon hab’ ich den Tod bezwungen
Und - durch die Liebe - die Gewalt der Zeit.
0, ew’ge Freundin, schwach von mir besungen,
Nimm an, was meine Muse Dir nun weiht...
Du hast Dich dreimal mir zu sehn gegeben.
Nicht mein Gedanke war’s, der Dich erschuf;
Nein, tiefste Wirklichkeit war dies Erleben:
Du kamst, vernehmend meines Herzens Ruf.
I.
Zum ersten Mal vor sechsunddreißig Jahren
- So weit zurück trägt die Erinnerung kaum!
-Bekam des Kindes Seele zu erfahren
Der Liebessehnsucht unruhvollen Traum...
Hochamt zu Himmelfahrt. Welch schöner Morgen.
Doch kocht das Herz. Die Messe wird mir lang."
"O lasset uns ... ablegen ... alle Sorgen
", So tönt vom Chor der Cherubingesang.
Und plötzlich will der Blick an nichts mehr haften,
Das Irdische verlor sich ohne Spur.
Verklungen ist der Sturm der Leidenschaften,
Um mich herum und in mir nur Azur.
Azur-umstrahlt auch Du! Und eine Blüte
Von überird’scher Schönheit hielt die Hand.
Du lächeltest mir zu in holder Güte,
Du nicktest - und das Himmelsbild entschwand.
II.
Die Jahre fliehn. Die erste Auslandsreise.Ich bin Privatdozent. In raschem Flug
Durcheil’ ich Deutschland auf dem
Bahngeleise, Berlin - Hannover - Köln: so rollt der Zug.
Der Prado, Notre Dame, das Kolosseum, Aja Sofia - all dies lockte kaum:
Es zog mich hin zum Britischen Museum,
Und dort erfüllte sich denn auch mein Traum.
Nie werd’ ich diese schöne Zeit vergessen.
Mich reizte keiner ird’schen
Schönheit Schein.
Ich war von keiner Leidenschaft besessen,
In meiner Seele herrschtest Du allein ...
Doch meist war ich allein im Lesesaale,
Las, was ich über Sie geschrieben fand.
Geheime Mächte spielten viele Male
Die besten Bücher schlau mir in die Hand...
Da, eines Tags - das Jahr ging schon zur Neige
Sprach ich zu Ihr: "Ich fühle, Du bist hier:Du bist mir nah, wie einst dem Kinde. Zeige,
O Blüte Du der Gottheit, - zeig’ Dich mir:"
Kaum war’s gesagt, da fühlt’ ich mich umflossen
Von gold’nem Glanz und strahlendem Azur.
Und wieder sah ich Sie, von Licht umgossen,
Doch nur Ihr Antlitz, ach! - das Antlitz nur.
Lang lebte ich vom Glücke dieser Stunde,
Für Ird’sches war ich wieder blind
und stumm.Und drang zu "seriösem" Ohr die Kunde,
So schien sie dem ganz unbegreiflich dumm.
III.
Ich sprach zu Ihr: "Ich habe Dich gesehen,
Doch nur Dein Angesicht, im Himmelsglanz.
O ew’ge Freundin, lass Dich nun erflehen,
Und zeig Dich mir, wie einst dem Kinde: - ganz!"
Auf nach Ägypten!", hört’ ich’s in mir sagen.
War’s Leichtsinn, dass ich mich darauf verließ?
Kurz - ich gehorchte. Ohne viel zu fragen,
Saß ich auch schon im Zuge nach Paris.Lyon, Turin, Ancona, Bari flogen
An mir vorbei. Mich kümmert’ es nicht viel.
Schon trug von Brindisi durch Meereswogen
Ein britischer Dampfer mich ins Land am Nil.
In Kairo fand Kredit und Unterkommen
Ich in dem reizenden Hotel "Abbat".
Auch Russen hatten dort Quartier genommen,
Sogar aus Moskau, meiner Vaterstadt ...
Indes erhoffte ich von Ihr ein Zeichen.
Und sieh - in stiller Nacht berührt’ es mich.
Ich spürte sanftes Wehn durchs Zimmer streichen:
"Komm in die Wüste! Ich erwarte Dich!" ...
So wandre ich an einem schönen Morgen
Zu Fuß und ohne Geld aufs Gratewohl
Der Wüste zu und mach’ mir nicht viel Sorgen,
Was ich denn in der Wüste essen soll ...
Die Sonne war bereits am Niedersinken,
Schnell ward es dunkel - ohne Übergang.
Die Nacht war finster - trotz der Sterne Blinken
Die Wüste still, kein Ton, kein Laut erklang ...
So lag ich lang’ in halbem Schlaf darnieder
Da wehte es. "Mein armer Freund, schlaf ein!"
Und ich schlief ein; - - und ich erwachte wieder
Und sah die Welt in ros’gem Frührots Schein.
Im Purpurglanz des Morgenhimmels blühte
Ein Frühling auf, draus blicktest Du mich an.
Der helle Schein in Deinen Augen glühte
Wie einst das Licht am Tag, da Gott sein Werk begann.
Was ist, was war, was kommt in Ewigkeiten,
Lag vor dem Blick in reicher Vielgestalt:
Blau schimmern unter mir des Meeres Weiten,
Die weißen Bergeshöhn, der ferne Wald.
Ich sah das All, und alles war nur Eines,
War meiner ew’gen Freundin holdes Bild,
Und von dem Glanze dieses Himmelsscheines
War alles um mich her und war mein Herz erfüllt.
Lichtglänzende, Dein Wort hat nicht getrogen:
Ich durfte in der Wüste ganz Dich sehn.
Wohin auch immer mich des Lebens Wogen
Noch tragen - dieses Glück kann nicht vergehn.
Doch die Erscheinung schwand in Blickes Schnelle.
Am Horizont ging auf der Sonnenball.
Die Wüste schwieg. Doch in der Morgenhelle
Klang’s in mir fort wie ferner Glocken Hall ...
Die Welt ist eitel. Doch des Stoffes Hülle
Verbirgt mir nun nicht mehr das ew’ge Urgestein;
Noch untertan der Zeit, sah ich die Fülle
Der Gottheit, sah das ewig-eine Sein.
Im Vorgefühl hab ich den Tod bezwungen,
Im seherischen Traum die Macht der Zeit.
O ew’ge Freundin, schwach von mir besungen,
Verzeih, was meine Muse Dir geweiht.

Sophia bei Teilhard de Chardin

(1. 5. 1881 – 10. 4.1955 Ostersonntag)
Hymne an das Ewig-Weibliche
(gerade darin sieht man, wie große Denker und Visionäre Ähnliches schauen)
Ab initio creata sum ... (Sir 24,9)
Seit Weltbeginn bin ich erschienen.vor den Ewen (Äonen) ging ich hervor ans Gottes Hand...Mitwirken durfte ich an
Seinem Werk.Gott hat mich als Anfang und Ursprung der Vielfalt erdacht und gemacht, als die Kraft, die verdichtet und
den Dingen Mitte und Heimat ist.
Ich bin das einigende Antlitz aller Seienden,
Der Duft, der sie anzieht und herbeilockt,
sie in Freiheit und Leidenschaft mitreißt auf den Weg ihrer Einigung.
Durch mich gerät alles in Bewegung, wird alles in Ordnung gebracht.
Ich bin die Anmut, die in die Welt eingesenkt ist,
auf dass sie zusammenfinde, auf dass sie sich sammle.
Ich bin das Ideal, das über ihr schwebt, auf dass sie emporsteige.
Ich bin das wesenhaft Weibliche.
Im Anfang war ich wie eine Woge der Kraft,
ein Hauch der Liebe für die noch schwachen Strebungen wechselseitiger Polaritäten.
Wie eine noch schlummernde, doch kraftvoll wirksame Seele
bewegte ich die fast gestaltlose erste stoffliche Masse,
die sich in das Feld meiner Anziehung stürzte.
Ich war’s, die auf diese Weise die Grundfesten des Weltalls legte.
Ich bin’s, der einzigartige Strahl, von dem her und in dessen Schoß
dies alles wird, sich entfaltet, vollendet.
Wer mich gefunden hat, steht am Eingang zu allen Dingen ...
Durch die schöpferische Verflochtenheit meines Wesens mit der Natur
wirke ich als ihr Lebensprinzip, bin ich die Seele der Welt.
In Wahrheit, ich bin der allgegenwärtige Charme des Universums,
ich bin das vielgesichtige Lächeln der Schöpfung.
Ich bin der Zugang zum universalen und personalen Herzen der Welt,
die Tür zur Erde - die Initiation - ich selbst bin dieses Herz.
Wer mich ergreift, der gibt sich mir hin und wird vom Universum ergriffen.Ich bin wesenhaft fruchtbar - das heißt: Ich bin
auf die Zukunft hin ausgerichtet,
auf das Ideal.
Ihr Menschen, je mehr ihr mich in Richtung des Vergnügens nur sucht,
desto mehr entfernt ihr euch von mir.
Et usque ad futurum saeculum non desinam ... Sir 24,9
Christus hat mich gerettet, Er hat mich befreit.
Er hat mir all mein Geschmeide gelassen.
Er hat vom Himmel her einen Strahl auf mich fallen lassen,
der mich grenzenlos erhoben, unendlich schön gemacht hat.
So entwickelte sich in aller Geduld und insgeheim die Gestalt der Braut und der Mutter ...
des menschwerdenden Logos, der mich und durch mich alles vergöttlichen wird.
In der wiedergeborenen Welt bin ich weiterhin, wie seit meiner Geburt,
der Anruf zur Einigung mit dem All, der Charme der Welt,
auf ein menschliches Antlitz gelegt.
Noch immer verführe ich - aber dem Lichte zu.
Noch immer fasziniere ich, reiss ich fort - aber zur Freiheit.
Von nun an um so mehr, denn sie haben meine Jungfräulichkeit erkannt.
Aber die Jungfrau ist noch immer Weib und Mutter: Das ist das Zeichen der neuen Zeit.
Vereint mit Christus und unter seinem Einfluss
wirke ich, bis ich die Schöpfung vollendet habe ...
in einer immer wechselnden, immer mehr zusammenfassenden Vollkommenheit,
in der sich die Sehnsüchte jeder neuen Generation ausdrücken.
Deshalb wird man, solange die Welt besteht, auf meinem Antlitz,
das ich gnädig Beatrice geliehen,
die Träume der Kunst und Wissenschaft sich abspiegeln sehen,
zu denen hin sich jedes neue Jahrhundert erhebt ...
Ich bin die unverwelkliche Schönheit der künftigen Zeiten.
Ich bin das Ideal der Frau, der weiblichen, bräutlichen Schöpfung.
Und je mehr ich auf diese Art Frau werde,
desto vergeistigter, himmlischer wird die Gestalt und Schönheit von mir.
In mir strebt die Seele danach, den Leib zu transformieren,
die Gnade strebt danach, die Seele zu vergöttlichen.
Wer mich behalten will, muss sich mit mir wandeln.
Gott ist es, der euch in mir erwartet. Gott,
den ich längst vor euch an mich gezogen ...
Längst bevor der Mensch die Sendung und Größe von mir erahnt ...
da hatte der Herr mich bereits als Ganze, als Seine Weisheit geschaffen,
und ich hatte Sein Herz gewonnen.
Meint ihr, Er wäre ohne meine reinste Schönheit, die Ihn verführte,
je herabgestiegen und Fleisch geworden inmitten Seiner Schöpfung?
Die Liebe allein ist fähig, das Sein zu bewegen.
Und so musste Gott, um aus Sich heraustreten zu können,
vor Sich her zuerst einen Pfad der Sehnsucht entwerfen,
vor seiner Ankunft einen Duft von Schönheit verbreiten.
Damals ließ Er mich entstehen ... überm Abgrund –
zwischen der Erde und Sich selbst - um in mir unter euch zu sein.
Zwischen Gott und die Welt gesetzt als Medium der gemeinsamen Anziehung
führe ich sie beide zusammen - das ist mein leidenschaftliches Anliegen, meine Sendung,
bis dass in mir die Begegnung stattfinde,
wo sich das Geschlecht und die Fülle Christi ereignen, durch Ewen (Äonen) hindurch...
Ich bin die Kirche, Jesu Braut - ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter aller Menschen.
Bis in die Brände der göttlichen Berührung hinein
werde ich überstehen, ich als Ganze mit der ganzen Fülle meiner Herkunft.
Ja mehr, ich werde fortfahren, mich zu offenbaren und kundzutun –
in meinen Werken ebenso unerschöpflich wie die unendlichen Reize,
für die ich immer, auch wenn keiner es merkt, das Gewand, das Antlitz und der Zugang bin ...
Wenn ihr meint, ich sei nicht da, ich sei abwesend,
wenn ihr mich vergessen und nicht merken werdet,
mich, die Luft für eure Lungen, das Licht für eure Augen - werde ich immer noch da sein, bekleidet und berauscht von
der Sonne, die ich an mich heranzog.
Ich bin das Ewig-Weibliche!

(Ins Deutsche übertragen von Hans Urs von Balthasar, Johannes Verlag, Einsiedeln 1968)

Dazu ein Zitat aus dem Kommentar von Henry de Lubac:

Maria ist das universale Geschöpf (Jaques Olier, S. 154/159). Christus und Maria sind das eine vollendete Zentrum der neuen Erde. Marienverehrung ist das Gegengewicht zur "Männlichkeit" Jahwes. Die Entwicklung des Marienkultes entspricht einem "unwiderstehlichen christlichen Bedürfnis, einer grässlich vermännlichten Vorstellung des Göttlichen abzuhelfen".

Dieselbe Erfahrung liegt wohl auch in den "Hymnen an die Kirche" von Gertrud von le Fort (+1971)

Die Stimme der Kirche spricht:

Ich habe noch Blumen aus der Wildnis im Arme, ich habe noch Tau in meinen Haaren aus den Tälern der Menschenfrühe.
Ich habe noch Gebete, denen die Flur lauscht, ich weiß noch, wie man die Gewitter fromm macht und das Wasser segnet.
Ich trage noch im Schoß die Geheimnisse der Wüste, ich trage noch auf meinem Haupt das edle Gespinst grauer
Denker.
Denn ich bin die Mutter aller Kinder dieser Erde: was schmähst du mich, Welt, dass ich groß sein darf wie mein
himmlischer Vater?
Siehe in mir knien Völker, die lange dahin sind, und aus meiner Seele leuchten nach dem Ew’gen viele Heiden!
Ich war heimlich in den Tempeln ihrer Götter, ich war dunkel in den Sprüchen aller ihrer Weisen.
Ich war auf den Türmen ihrer Sternsucher, ich war bei en einsamen Frauen, auf die der Geist fiel.
Ich war die Sehnsucht aller Zeiten, ich war das Licht aller Zeiten, ich bin die Fülle der Zeiten.
Ich bin ihr großes Zusammen, ich bin ihr ewiges Einig.
Ich bin die Straße aller ihrer Straßen: auf mich ziehen die Jahrtausende zu Gott!
An die Kirche:
Du hast einen Mantel aus Purpurfäden, die sind nicht auf Erden gesponnen.
Deine Stirn ist mit einem Schleier geschmückt, den haben dir unsre Engel geweint.
Denn du trägst die Liebe um alle, die dir gram sind, du trägst große Liebe um die, die dich hassen.
Deine Ruhe ist immer auf Dornen, weil du ihrer Seelen gedenkst.
Du hast tausend Wunden, daraus strömt dein Erbarmen; du segnest all deine Feinde.
Du segnest noch, die es nicht mehr wissen.
Die Barmherzigkeit der Welt ist deine entlaufene Tochter, und alles Recht der Menschen hat von dir empfangen.
Alle Weisheit der Menschen hat von dir gelernt.
Du bist die verborgene Schrift unter all ihren Zeichen, du bist der verborgene Strom in der Tiefe ihrer Wasser.
Du bist die heimliche Kraft ihres Dauerns.
Die Irrenden gehen nicht unter, weil du noch den Weg weißt, und die Sünder werden verschont, weil du noch betest.
Dein Gericht ist die letzte Gnade über den Verstockten.
Wenn du einen Tag verstummtest, so würden sie auslöschen, und wenn du eine Nacht schliefst, so wären sie dahin!
Denn um deinetwillen lassen die Himmel den Erdball nicht fallen: alle, die dich lästern, leben nur von dir.