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Rezension zu: Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland: "Freiheit und Verantwortung im Einklang." |
Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland |
"Freiheit und Verantwortung im Einklang - Zeugnisse für den Aufbruch zu einer neuen Weltgemeinschaft" - Titel und Untertitel formulieren das Leitthema und das wichtigste Anliegen seiner "Heiligkeit Patriarch Kyrill von Moskau und der ganzen Rus". Hätte man nicht wegen der Wiederholungen der wichtigsten Thesen einige Texte herauslassen oder kürzen können? Vom Inhalt her sicherlich, aber die Vielfalt der Kommunikationssituationen muss erfahrbar, erarbeitet oder hier eher "erlesen" werden: Die Sammlung enthält zahlreiche Veröffentlichungen in russischen Kirchenzeitungen und großen politischen Zeitungen, Vorträge z.B. auf einem internationalen Seminar in Budapest, bei einer internationalen theologischen Konferenz in Moskau oder beim Seminar: "Die Treue zu den christlichen Werten der Tradition und der Gewissensfreiheit" in Moskau, bei dem Weltkongress des russischen Volkes, Vorträge bei der Sitzung des Europäischen Rates der religiösen Oberhäupter in Oslo, auf der internationalen Konferenz: "Europa eine Seele geben. Sendung und Verantwortung der Kirchen" in Wien, beim Seminar: "Entwicklung der sittlichen Werte und der Menschenrechte in der multikulturellen Gesellschaft" in Straßburg, beim Seminar: "Dialog der Kulturen und Zivilisationen. Die Brücke zwischen Menschenrechten und sittlichen Werten" in Paris, ein Statement bei der Podiumsdiskussion des Menschenrechtrates der UNO in Genf und schließlich das Referat auf der ersten Plenarsitzung des Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung, Sept. 2007 in Sibiu, Rumänien. Diese Fülle verdeutlicht die Unermüdlichkeit, mit der der Bischof sich einsetzt für den Aufbau der Kirche im eigenen Land und für den interreligiösen und internationalen Dialog um die Werte, von der staatliche und internationale Ordnungen getragen werden sollen. Wie gut, dass das große Interview der Zeitschrift "Kirche und Zeit" (17. 01. 2001) mit dem Metropoliten Kyrill den Reigen der Texte eröffnet! Die zurückhaltenden Berichte über die Geschichte seiner Familie und über die Erfahrungen bei seiner Arbeit in der russischen Kirche vermitteln einen erschütternden Eindruck von der Situation der Kirche im totalitären Regime, von den Leiden der Priester und Gläubigen. Diese Erfahrungen von 70 Jahren Diktatur sind für uns kaum nachvollziehbar. Staunend steht man vor dem Wunder des Ausharrens, Überdauerns und der Erneuerung der Kirche nach 1991. Die Berichte helfen verstehen, vor welchen Herausforderungen die Kirche 1991 stand, wie schwer es sein musste, die Beziehung zu dem neuen Staat zu definieren. Dazu kam nach der Befreiung aus der Isolation noch die Aufgabe, an der Gestaltung der internationalen Beziehungen mitzuwirken. Sollte man auch die anderen, manchmal recht spröden Texte lesen? Ja - mit Freude, Ausdauer und manchmal mit der erforderlichen Tapferkeit. Seit Jahrhunderten ist Russland ein Teil Europas, zu dem Deutschland übrigens vor dem Kalten Krieg traditionell ein gutes Verhältnis hatte. Deshalb ist es an der Zeit, unsere Nachbarn näher kennen zu lernen, uns vorurteilsfrei mit ihrer kirchlichen Tradition auseinander zu setzen und von ihren besonderen Erfahrungen zu lernen. Drei Texte scheinen mir dazu als Einstieg besonders geeignet zu sein. "Das liberale Wertesystem als Bedrohung der Freiheit", Januar 2004 (S. 64-69) Der Beitrag in einer Kirchenzeitung wendet sich an die eigenen Landsleute. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung der Grenzen fühlten sich offensichtlich viele Christen bedroht von der Konfrontation mit westlichen Lebensgewohnheiten im eigenen Land. Diese Ängste erklärt Kyrill mit dem Zusammenprall zweier unvereinbarer Systeme: dem säkular-humanistischen und dem religiös-traditionsbezogenen. Die rein säkularen Ansichten des westlich geprägten Liberalismus überschwemmten viele Länder ohne Rücksicht auf ihre religiösen und sittlichen Traditionen, das müsse überall als "höchst verletzend" empfunden werden. Eindringlich warnt er die Christen davor, sich wieder ins Ghetto zurück zu ziehen, und fordert sie auf, sich um den Dialog mit den anderen großen Religionen und mit Vertretern der säkularen weltlichen Ordnung zu bemühen. Das sei der einzige Weg, um in der Ordnung sowohl eines einzelnen Staates als auch der internationalen Beziehungen den allgemein gültigen sittlichen Werte Geltung zu verschaffen. Sollte es dagegen nicht gelingen, die Stimmen der Gläubigen in die staatlichen Gesetze einfließen zu lassen, werde das gefährliche Auswirkungen haben, wie Terroranschläge in aller Welt zeigen. Denn extremistische fundamentalistische Gruppen führen keinen Religionskrieg, sondern empören sich gegen den westlich geprägten rein säkularen Liberalismus, der ihnen aufgezwungen werden soll. Der "Dialog zwischen dem säkularen und dem religiösen Denken" sei also lebensnotwendig, um eine Harmonie zu erreichen (S.69), d. h. das Gelingen eines solchen Dialogs sei die Voraussetzung für einen Frieden in Gerechtigkeit. "Einheit der Kirche und Erneuerung der Menschheit. Eine gemeinsame Suche", Vortrag auf einem internationalen Seminar in Budapest, Dez. 1987 (S.50 - 63) Die Einheit der Menschheit sei zwar eine eschatologische Verheißung, dennoch dürfe man nicht aufhören, nach ihr zu streben. Denn angesichts der "brutalen Realitäten" der Welt sei sie die einzige Chance, das Überleben der Menschheit zu sichern. Voraussetzung für gemeinsames Handeln sei die Erarbeitung einer gemeinsamen "Weltanschauung". Die eigentliche Ursachen der heutigen globalen Bedrohungen der Menschheit sei das Fehlen eines "geistigen Fortschritts", d.h. der Verlust der sittlichen Werte. Der Grundfehler sei die Trennung von Politik, Wissenschaft und Justiz vom Ethos. Nur auf der Grundlage gemeinsamer sittlicher Prinzipien seien die gegenwärtigen Krisen zu lösen. Obwohl die Christen aus ihrer Geschichte ein schweren Erbe zu tragen hätten (Eroberungskriege, Kolonialismus, totalitäre Regime etc.) müssten sie sich in diesen Prozess mit einbringen. Ein dringender Appell, dem wir uns kaum entziehen können. "Menschenrechte und religiös-kulturelle Traditionen", Beitrag auf der Konferenz "Menschenrechte und nationale Eigenständigkeit", Moskau, April 2007 (S.137-140) Nach der Feststellung, der öffentliche Raum könne nie wertneutral sein, folgt eine These, die für uns in Deutschland im Zusammenhang mit dem problematischen Begriff "Leitkultur" besonders wichtig ist: "Der Haltbarkeitstest einer modernen Gesellschaft ist ihre Fähigkeit, unter den Bedingungen des Zusammenwirkens vieler Wertesysteme zu leben" (S.137). Am Beispiel der Manipulationen der Menschen durch die Massenmedien wird verdeutlicht, wie sehr gläubige Menschen in Russland sich nach 1991 von dem uneingeschränkten Liberalismus der westlichen Welt bedroht fühlen. Die Ursache für all diese Freiheiten sei, dass die bloß formalen Menschenrechte absolut gesetzt würden, ohne Rücksicht auf die traditionellen Werte wie Glaube, Sittlichkeit, Heiligtümer und Vaterland. Oft werde die Meinung von Minderheiten der Mehrheit aufgezwungen. "Reale Demokratie" bedeute, auf die Stimme der Mehrheit der Bürger zu hören, vor allem im Hinblick auf die sittlichen Werte. Sicherlich müssen in einem Diskussionsprozess Gegensätze klar formuliert werden. Aber die Projizierung aller Übel der Moderne auf ein einziges Feindbild, den westlich geprägten Liberalismus, der die Menschenrechte missbrauche, um der ganzen Welt seine Werte aufzuzwingen, überzeugt nicht. In der Sprache der Politik wird solch ein einfaches Freund-Feindbild als wesentliches Merkmal der Sprache der Ideologie bezeichnet. Diese Vereinfachung führt auch zu einer verzerrenden Darstellung der geschichtlichen Entwicklung. Die Renaissance z.B., mit der nach Kyrill das Übel der Moderne begann, war nicht gottlos, viele Humanisten und bildende Künstler waren sehr fromm und oft gute Christen. Auch die Reformation war nicht nur vom Übel, und die Philosophen und Dichter der Aufklärung waren nicht alle areligiös und befürworteten nicht ein Leben, losgelöst von sittlichen Normen, wie man leicht z.B. bei Kant oder Lessing etc. nachlesen kann. Wir verdanken dieser Zeit die Durchsetzung der Menschenrechte in der politischen Ordnung, die Verbrechen während der Französischen Revolutionen und während der Terrorregime des 20. Jahrhunderts hätten vor dem Tugendkatalog der Zeit niemals bestehen können. Die Präambel unseres Grundgesetzes verdeutlicht, dass ein Staat, der auf der Achtung der Menschenrechte basiert, nicht frei von der Bindung an die Normen der Sittlichkeit ist. Der erste Satz beginnt: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden zu dienen
" Die Formulierung von Art. 1,1 der Grundrechte: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt" passt zu der biblischen Begründung der Würde des Menschen als einzigartigem Geschöpf Gottes. Die von Kyrill hinzugefügte zusätzliche Definition der Würde des Menschen als Ansehen, das durch ein Leben im Einklang mit den göttlichen Geboten erworben werden muss, scheint mir in dem Zusammenhang sogar gefährlich. Laut Grundgesetz hat jedenfalls jeder Mensch, auch der Kriminelle, auch der Schwerkranke und Demente, den Anspruch auf Wahrung und Schutz seiner Würde, und "körperlicher Unversehrtheit" (Art. 2,2) Noch eine kurze Bemerkung zu den Herausgebern. Das erste kurze Geleitwort hätte genügt. Das "Geleitwort der Herausgeber", S. III-XIV, schreckt den Leser eher ab. Es ist zu lang, die als notwendig erachteten Erläuterungen nehmen dem Leser zu viel vorweg. Trauen die Herausgeber dem Leser oder sogar den veröffentlichten Texten zu wenig zu? Zumindest sind diese interessanter und leichter zu lesen als das Vorwort und regen durchaus zum Nachdenken und zur Diskussion an. Monika Kleineidam |