OKI-Logo Beschlussantrag im Deutschen Bundestag
zur Vertreibung der Armenier 1915


Antrag
der Abgeordneten Dr. Christoph Bergner, Dr. Friedbert Pflüger,
Erwin Marschewski (Recklinghausen), … und der Fraktion der CDU/CSU

Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages
des Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an den Armeniern
am 24. April 1915
Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen

Der Bundestag wolle beschließen:
Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vor 90 Jahren, am 24. April 1915, begann auf Befehl der das Osmanische Reich lenkenden jungtürkischen Bewegung die Verhaftung und Verschleppung der armenischen politischen und kulturellen Elite Istanbuls ins Landesinnere, wo deren größter Teil ermordet wurde. Dieses Geschehen bildete den Beginn von Vertreibungen und Massakern an den armenischen Untertanen des Osmanischen Reiches, die im Schatten der Ereignisse des 1. Weltkrieges stattfanden. Den nachfolgenden Deportationen und Massenmorden fielen nach unabhängigen Berechnungen zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Armenier zum Opfer. Die armenischen Rekruten der osmanischen Armee wurden zu Beginn des Kriegseintritts des Osmanischen Reichs in Arbeitsbataillone zusammengefasst und mehrheitlich ermordet, die Frauen, Kinder und Alten ab Frühjahr 1915 auf Todesmärsche durch die syrische Wüste geschickt. Eine der gewollten Folgen dieser Deportationen war, wie einer der angesehensten Historiker des 20. Jahrhunderts, Arnold J. Toynbee, 1967 in seinem Buch "Acquaintances" im Rückblick feststellte, "so viele Leben wie nur möglich en route zu vernichten." Wer von den Verschleppten noch nicht unterwegs ermordet worden oder umgekommen war, den erreichte dieses Schicksal spätestens in den unmenschlichen Lagern in der Wüste um Deir ez Zôr. Massaker wurden auch von eigens dafür aufgestellten Spezialeinheiten ausgeführt. In den Gebieten, aus denen die christlichen Armenier vertrieben worden waren, siedelte die osmanische Regierung als loyal geltende muslimische Untertanen an, zumeist Flüchtlinge der Balkankriege. Ebenso waren Angehörige anderer christlicher Volksgruppen, insbesondere aramäisch/assyrische und chaldäische Christen, aber auch bestimmte muslimische Minderheiten von Deportationen und Massakern betroffen.

Die Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs, die Republik Türkei, bestreitet bis heute, dass diesen Vorgängen eine Planmäßigkeit zugrunde gelegen hätte bzw. dass die Todesfälle während der Umsiedlungstrecks und die verübten Massaker von der osmanischen Regierung gewollt waren. Diese ablehnende Haltung steht im Widerspruch zu der Idee der Versöhnung, die die Wertegemeinschaft der Europäischen Union leitet, deren Mitgliedschaft die Türkei anstrebt.

Der in diese Vorgänge neben dem Osmanischen Reich am tiefsten involvierte Staat war dessen militärischer Hauptverbündeter während des Ersten Weltkriegs, das Deutsche Reich. Sowohl die politische als auch die militärische Führung des Deutschen Reichs war von Anfang an über die Verfolgung und Ermordung der Armenier genauestens informiert. Die Akten des Auswärtigen Amts, die auf Berichten der deutschen Botschafter und Konsuln im Osmanischen Reich beruhen, dokumentieren die planmäßige Durchführung der Massaker und Vertreibungen. Trotz dringender Eingaben vieler deutscher Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Kirchen an den Reichskanzler unterließ es die deutsche Reichsleitung jedoch, auf ihren osmanischen Verbündeten mit anderen Mitteln als lediglich mit diplomatischen Noten einzuwirken; diese waren mehr zur Entkräftung der Anklagen, die seitens der westlichen Entente gegen Deutschland erhoben worden, als zur Beeinflussung des eigenen türkischen Bündnispartners gedacht.

Als der evangelische Theologe Dr. Johannes Lepsius Anfang Oktober 1915 in der Pressevereinigung im Deutschen Reichstag die Ergebnisse seiner im Juli/August 1915 in İstanbul durchgeführten Recherchen vortrug, wurde das gesamte Armenier-Thema von der deutschen Reichsregierung gegen die Intention von Lepsius unter Zensur gestellt. Ebenso wurde von der deutschen Militärzensur bereits am 7. August 1916 die einen Monat zuvor in Potsdam als Buch publizierte Dokumentation von Johannes Lepsius "Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei" verboten und beschlagnahmt. Die von Lepsius direkt an die Abgeordneten des Deutschen Reichstags gesandten Exemplare dieser Dokumentation wurden durch die Behörden abgefangen und den Abgeordneten erst nach dem Krieg 1919 ausgehändigt.

Es zeichnet die Staaten der Europäischen Union aus, dass sie sich zu ihrer kolonialen Vergangenheit und den dunklen Seiten ihrer nationalen Geschichte bekennen. Noch immer sind aber Historiker in der Türkei bei der Bearbeitung der Geschichte der Vertreibung und Ermordung von Armeniern 1915-1916 nicht frei. Nicht nur wegen der Publikation von historischen Untersuchungen zu den Armenier-Massakern, sondern auch aufgrund der Edition von Romanen wie z.B. dem weltbekannten Werk von Franz Werfel "Die vierzig Tage des Musa Dagh", das das Schicksal der Armenier behandelt, werden türkische Wissenschaftler und Herausgeber in der Türkei strafrechtlich verfolgt. Solange das Eingeständnis einer türkisch/osmanisch-staatlichen Schuld bzw. einer planmäßig durchgeführten Absicht hinter den Vertreibungen und Massakern an den Armeniern in der Türkei oder auch nur die Erwähnung der Verbrechen an den Armeniern unter Strafe steht, kann also nicht einmal die Grundvoraussetzung einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung erfüllt werden.

Die Auseinandersetzung mit diesen historischen Ereignissen hat aber auch unmittelbare Bedeutung für die Gegenwart. Heute ist die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Republik Türkei und der Republik Armenien, die wesentlich unter der Last einer unbewältigten Vergangenheit leiden, für die Zukunft der ganzen Region von besonderem Interesse. So könnte ein Ende der Grenzblockade durch die Türkei die Isolierung Armeniens aufheben. Das Ende der Isolierung Armeniens würde neue Möglichkeiten der friedlichen Lösung des Karabach-Konfliktes zwischen Armenien und Aserbaidschan bieten. Deutschland kommt im Rahmen der Nachbarschaftsinitiative der EU und aufgrund seiner problematischen Rolle in den deutsch-türkisch-armenischen Beziehungen Anfang des 20. Jahrhunderts eine besondere Verpflichtung zu, sich für eine solche Normalisierung und Verbesserung der Lage zwischen Armenien und der Türkei einzusetzen. Es liegt im Interesse der EU, durch die ffnung des Landweges durch die Türkei die wirtschaftliche Entwicklung Armeniens und die Stabilität in der Region zu fördern.

Der Deutsche Bundestag verneigt sich im Gedächtnis der Opfer von Gewalt, Mord und Vertreibung unter den Armeniern. Er bedauert die zweifelhafte Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der Informationen über organisierte Vernichtung von Armeniern im Osmanischen Reich, die dem Auswärtigen Amt vorlagen, nicht einmal versucht hat, einzugreifen. Der Deutsche Bundestag ehrt mit diesem Gedächtnis auch das Werk all der Deutschen, die sich unter schwierigen Umständen und gegen den Widerstand ihrer Regierung in Wort und Tat für die Rettung von armenischen Frauen, Männern und Kindern eingesetzt haben. Besonders das Werk von Johannes Lepsius, der energisch und wirksam für das Überleben des armenischen Volkes gekämpft hat, soll der Verdrängung und dem Vergessen entrissen und im Sinne der Verbesserung der Beziehungen zwischen dem armenischen, dem deutschen und dem türkischen Volk gepflegt und erhalten werden.

Heute leben rund 3,5 Millionen Armenier außerhalb der Republik Armenien. 40.000 Armenier leben in Deutschland unter verschiedenen Aufenthaltstiteln. Seit den 70er Jahren haben sich vor allem die beiden großen Kirchen in Deutschland für eine Integration der Christen aus der Türkei eingesetzt. Die entstandenen armenischen Gemeinden bieten auch die Möglichkeiten der Begegnung und des Gedenkens. Gerade angesichts der großen Anzahl der in Deutschland lebenden Muslime aus der Türkei ist es eine wichtige Aufgabe, sich die Geschichte zu vergegenwärtigen und dadurch auch zu einer Aussöhnung beizutragen.

Als Deutsche sind wir in einer besonderen Verantwortung und appellieren daher an Türken und Armenier, über die Gräben der Vergangenheit nach Wegen der Versöhnung und Verständigung zu suchen.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

  • dafür einzutreten, dass sich die Türkei mit ihrer Rolle gegenüber dem armenischen Volk in Geschichte und Gegenwart vorbehaltlos auseinandersetzt
  • sich für die Gewährung der Meinungsfreiheit in der Türkei, insbesondere auch bezüglich der Massaker an den Armeniern, einzusetzen.
  • darauf hinzuwirken, dass die Türkei auch mit Blick auf die EU-Beitrittsverhandlungen die zwischenstaatlichen Beziehungen zu Armenien umgehend normalisiert.
  • einen eigenen Beitrag dafür zu leisten, dass zwischen Türken und Armeniern ein Ausgleich durch Versöhnen und Verzeihen historischer Schuld erreicht wird.
  • einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert auch in Deutschland erfolgt.

Berlin, den

Dr. Christoph Bergner, Dr. Friedbert Pflüger, Erwin Marschewski (Recklinghausen), … Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion.