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Predigt von Bischof em. Franz Xaver Eder, Passau
zur Vesper im Ostkirchlichen Institut in Regensburg
am 27. November - Adventbeginn

Die Bergpredigt, das Fundament Europas (Mt 5,6)

 

In der altchristlich jüdischen Tradition fängt jeder neue Tag mit dem Vorabend an. Ganz sinngemäß begehen wir mit der Feier der Vesper heute den ersten Schritt in den Advent hinein. Vigil zum 1. Adventsonntag. Ein neuer Zyklus der Jahrfeier unseres Heiles, unserer am Kreuz Christi verbürgten Hoffnung auf das Kommen des Reiches Gottes. Eigentlich und zeitweilig sollten wir das gar nicht mehr erwarten können, dieses Reich Gottes, das uns zugesagt ist. Und doch lehrt uns die hl. Schrift und ganz drastisch die Geschichte, dass Gottes Reich in dieser Erdenzeit nicht zu erwarten ist. Aber den Hunger und den Durst nach der Gerechtigkeit, den tragen wir in unseren christlichen Genen. Und die Hoffnung, dass wir gesättigt werden! (vgl. Evgl.)

Das Wort des Herrn in seiner Programmrede: "Selig die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden" (Mt 5,6), dieses Wort lässt uns nicht los. Es steht heute am Anfang eines neuen Jahres der Kirche. Das macht unser Leben im Glauben nicht bequem. Aber man wird den Anspruch des Christentums auf Gerechtigkeit nicht dadurch los, dass man diesen Anspruch verkleinert auf Privates und Existenzielles. Die Frage nach der Gerechtigkeit ist eine personale, und zugleich eine gesellschaftliche Frage. Wir kommen nicht darum herum, die Bergpredigt auch politisch zu lesen. Zwar kann niemand mit der Bergpredigt einfachhin Politik machen. Aber man muss sie nach ihrer politischen Reichweite ausmessen. Die Reichweite des Evangeliums lässt sich nicht privatistisch verkleinern noch politisch überdehnen. Das Verhältnis von Religion und Politik ist immer auch zugleich das Verhältnis von geistlicher Vollmacht und weltlicher Macht. Von Heil und Herrschaft, und abgeleitet davon, von Staat und Kirche.

Wir Europäer haben unsere Erfahrungen gemacht. Wir wissen das genügsam aus dem mittelalterlichen Investiturstreit, aus den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts wie auch aus den säkularistischen Konflikten des 19. Jahrhunderts. Wenn man diese spezifisch europäische Entwicklung zusammenfasst, so kann man kurz und bündig sagen:

Christliche Religion taugt nicht zur politischen Herrschaft. Sie taugt nicht einmal dazu, politische Herrschaft zu legitimieren. Wohl aber taugt sie zur Mitsprache und zwingt zur Mitsprache, zum politischen Einspruch, um der Würde des Menschen willen. Darin ist christliche Religion nicht an ein bestimmtes politisches System gebunden (GS 76). Umgekehrt darf die Politik nicht von Religion einen herrscherlichen Gebrauch machen. Religion kann dem Menschen nicht verordnet werden. Es gibt keine Staatsreligion. Insofern kann man mit der Bergpredigt keine Politik machen. Europa war aber auch stets gut beraten, Politik nicht entwurzelt seiner christlichen, metaphysischen und ethischen Wurzeln anzulegen. Dies ist geschichtlich unter Schmerzen gewordene europäische Identität. Wo dies verleugnet wird, oder verschwiegen, ist kritische Aufmerksamkeit angebracht.

Es gibt in den schmerzlichen und nicht selten katastrophischen Kontroversen um Religion und Politik in Europa bis herein in unsere Zeit aber einen kritisch produktiven Dialog zwischen Aufklärung und Christentum. Beide Strömungen bleiben in kritischem Einspruch gegeneinander und sie bleiben einander zugleich verbunden. Das emphatische Eintreten der Aufklärer für die Kant'sche "Befreiung des Menschen" nährt sich letztlich aus dem Evangelium. Und andererseits das "aggiornamento", das Heutigwerden der Kirche und damit ihre ständige Erneuerung vom Ursprung her, wird immer wieder durch aufklärerische Kritik herausgefordert. Dieses spannungsreiche, unter Schmerzen geborene Beziehungsverhältnis, ist zur Quelle eines breiten Stromes zur Humanisierung der europäischen Gesellschaft geworden. Diese Spannung gehört zu Europa. Da steht nun als neue Herausforderung die Integration des Islam in Europa auf der politischen Agenda. Wir dürfen dies nicht als eine Frage Christentum kontra Islam ansehen. Die Kreuzzüge sind längst Geschichte. Es ist heute vielmehr die Frage der Anschlussfähigkeit des Islam an eine dialogisch gewordene europäische Identität. Es geht um die Frage, ob der Islam sich als dialogfähig mit den politischen Traditionen der Aufklärung erweist. Dabei wird das Christentum zum Brückenbauer, den Dialog mit dem Islam zu wagen, um so erneut für die Gestaltwerdung Europas einzustehen. Dabei ist uns Synkretismus ferne! Die Wahrheitsfrage bleibt! Es darf bei diesem Dialog mit dem Islam keine falsche Friedfertigkeit geben. Es geht aber sehr wohl und primär um die "Überwindung von Vorurteilen, Missverständnissen und Intoleranz..." (Redemptoris missio N. 56). Es geht um Anerkennung des Anderen und um Bewahrung der eigenen Identität.

Hungern nach der Gerechtigkeit! Die Menschen sollen satt werden in ihrem Hunger nach Gerechtigkeit.

Wenn nun die Bergpredigt nicht zu politischer Herrschaft taugt, aber die Herrschaft von Unrecht verhindern will, wie sieht dann die Politik aus, eine Politik aus der Bergpredigt? Da muss man wohl das Politische im Sinne der griechischen "Polfis" nehmen, lateinisch "Societas". Die Bergpredigt ist politisch - im Sinn politischer Gemeinschaft. Sie formuliert Maßstäbe dessen, was uns in Europa - und natürlich universal - zusammenhält. Es sind in der Bergpredigt Maßstäbe von Gerechtigkeit und Solidarität mitgegeben, aus denen das europäische Gesellschaftsmodell, wenn auch historisch wandelbar, - weil ja kein Sozialmodell in der Bibel steht -, sich ständig neu formt und erneuert. Es sind die Maßstäbe der Unterscheidung von Herrschaft als Recht und Herrschaft als Unrecht. Es geht um die größere Gerechtigkeit, die uns Christen aufgetragen ist, um eine Gerechtigkeit, die das Evangelium von uns fordert. Hier erweist sich die Bergpredigt als spezifisches politisches Gewicht in und für eine europäische Polfis.

In immer kürzeren Intervallen wird heute in der Tagespolitik der Schrei nach den Werten hörbar. Religiöse Werte werden beschworen und artikuliert bis hinein in Schule und Schulgebet. Wir haben heute aber in Europa wohl weniger ein Werteproblem, wir haben vor allem - und das ist unser eigentliches Werteproblem - ein Verbindlichkeitsproblem. Alle halten wir ja Werte wie Wahrhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Treue, Mitmenschlichkeit u.s.w. für gut und wertvoll, ja für unverzichtbar. Wer ist da eigentlich dagegen? Und trotzdem, sehr, sehr viele Menschen hinterziehen Steuern, viele schachern um persönliche oder nationale Vorteile. Manche können nicht genug bekommen, obwohl sie schon zuviel haben. Oder auch: Man scheut und umgeht Verbindlichkeit im zwischenmenschlichen Bereich von Mann und Frau und im gesellschaftlichen Miteinander. Wir brauchen also im gegebenen Verbindlichkeitsverfall Menschen, die ihre persönliche Wertorientierung als eine Maßstäblichkeit innerhalb des Miteinanders vorleben. Wir brauchen Gestalten, die den ethischen Anspruch moralisch beglaubigen. Unsere Gesellschaft kann nicht viele genug davon haben! Dies hält die Gesellschaft zusammen, nicht ein bloßes Bekenntnis und Rufen nach abstrakten Werten.

Das gelebte Bekenntnis zu Werten kann aber nicht isoliert und privat geschehen. Es würde verkümmern. Es muss öffentliche Gestalt gewinnen: Z. B. auch in der Solidarität mit Fremden, in der öffentlichen und verfassungsgemäßigen Anerkennung des kulturell Anderen, im politischen Ringen um eine gerechtere Verteilung der Güter und gerechte Chancen der Teilhabe am Wohlstand, im politischen Einspruch gegen jede Herrschaft des Unrechts. Da zeigt sich: Politik und Religion sind letztlich untrennbar.

Die Bergpredigt hält unser Europa zusammen. Diese Aussage erscheint vielleicht in säkularistischen Zeiten sehr angestrengt, Aber ich darf hier an die junge historische Erfahrung erinnern: Es kennzeichnete die totalitären Regime in Europa, dass sie sich entschieden antichristlich und antijüdisch verstanden. Hitler und Stalin, diese weltgeschichtlichen Gewaltverbrecher des vergangenen Jahrhunderts, schnitten die christlichen Traditionen ab. Sie bekämpften das Evangelium Christi mit seinem Programm der Bergpredigt, um den Terror der Menschenverachtung, der Entmenschlichung Europas durchzusetzen: Politische Systeme, ebenso antimodern wie antichristlich! Gegen sie, gegen die langen Schatten auf Europas jüngster Geschichte: Die Bergpredigt! Sie hält Europa zusammen. Bergpredigt und Evangelium werden so in der Konsequenz schmerzlicher Erfahrung der spirituelle Kern, aus dem wir nach dem Krieg mit Robert Schuman, mit de Gaspari und Konrad Adenauer nach Europa aufbrechen durften. Für uns Deutsche war das Zuspruch der Gnade und erneute Berufung zur Freiheit der Kinder Gottes, damit auf dem zerstörten und innerlich ausgebluteten Kontinent Gerechtigkeit und Versöhnung werde. Deshalb gilt im Anspruch von Gnade und Ethos des Glaubens: Der Glaube ist auf Gemeinschaft bezogen. Glaube ist politisch, er soll die Gesellschaft imprägnieren und die Gesellschaft soll gegenüber sich selbst einspruchsfähig bleiben. Der Christ privatisiert sich nicht. Ein Christ zieht sich nicht in den esoterischen Salon zurück. Der Christ bleibt in Verantwortung für das gemeinsame Gute, für das bonum commune. Er bleibt ein homo politicus und zwar unentrinnbar, damit der Zuspruch des Evangeliums in die Gesellschaft verbleibt, damit Europa nicht noch einmal entmenschlicht werde.

Es ist uns über dem Kalender auch eines neuen Kirchenjahres geschrieben: "Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden".

Amen