OKI-Logo Kirchliche Communio im Zeichen der Schwesterkirchen?


In der jüngsten Diskussion um die Erklärung Dominus Iesus der Glaubenskongregation in Rom (6. August 2000) ist ein anderes Dokument derselben Kongregation leider in den Hintergrund getreten: die "Note über den Ausdruck Schwesterkirchen" vom 30. Juni dieses Jahres. Über diesen Text möchte ich gemeinsam mit Ihnen nachdenken. Dieses Wort "gemeinsam" ist nicht rhetorisch, sondern sehr ernst gemeint: Auch für katholische Theologen und Theologinnen geben solche Dokumente aus Rom "zu denken", ja man hat den Eindruck, dass kirchliche Verlautbarungen innerhalb der katholischen Kirche zur Zeit oft sogar kritischer gelesen werden als außerhalb...

Hören wir also zunächst den recht kurzen Text der "Note" selbst. Es handelt sich dabei nicht um einen "lehramtliche Erklärung" im engeren Sinne, da der Text nicht in den "Akten des Apostolischen Stuhls" (Acta Apostolici Sedis) amtlich veröffentlicht wird. Die "Note" will eigentlich nichts Neues definieren, sondern eine hermeneutische Regel für den Umgang mit den vorhandenen kirchlichen Dokumenten aufstellen, die den Begriff Schwesterkirchen enthalten. Die Adressaten des Textes sind vorwiegend die im Bereich der Ökumene engagierten Theologen und Theologinnen – also wir alle!

 

KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE

Note über den Ausdruck Schwesterkirchen

1. Der Ausdruck Schwesterkirchen taucht häufig auf im ökumenischen Dialog, vor allem zwischen Katholiken und Orthodoxen. Auf beiden Dialogseiten ist er Gegenstand vertiefter Untersuchungen. Obgleich es eine zweifellos legitime Verwendung dieses Ausdrucks gibt, hat sich in der gegenwärtigen ökumenischen Literatur eine zweideutige Weise verbreitet, ihn zu gebrauchen. Deshalb ist es angebracht, in Übereinstimmung mit der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils und des nachfolgenden päpstlichen Lehramtes die richtige und angemessene Verwendung dieses Ausdrucks in Erinnerung zu rufen. Zunächst scheint es nützlich, kurz auf seine Geschichte einzugehen.

I. Ursprung und Entwicklung des Ausdrucks

2. Im Neuen Testament ist der Ausdruck Schwesterkirchen als solcher nicht zu finden. Es gibt jedoch zahlreiche Hinweise über die brüderlichen Beziehungen zwischen den Ortskirchen des christlichen Altertums. Die Stelle, die im Neuen Testament am klarsten dieses Bewusstsein widerspiegelt, ist der Schlusssatz von 2 Joh 13: Es grüßen dich die Kinder deiner auserwählten Schwester. Es handelt sich hier um Grüße, die eine kirchliche Gemeinschaft an eine andere sendet; die Gemeinschaft, welche die Grüße sendet, nennt sich selbst "Schwester" der anderen.

3. In der kirchlichen Literatur kommt der Ausdruck ab dem fünften Jahrhundert im Orient in Gebrauch, als sich die Idee der Pentarchie verbreitet, wonach die fünf Patriarchen die Kirche leiten und die Kirche von Rom den ersten Platz unter den patriarchalen Schwesterkirchen einnimmt. In diesem Zusammenhang muss jedoch unterstrichen werden, dass kein Papst diese Gleichstellung der Patriarchalsitze anerkannte oder zustimmte, dass dem römischen Stuhl nur ein Ehrenprimat zuerkannt würde. Zudem ist anzumerken, dass sich im Abendland eine Patriarchalstruktur, die für den Orient typisch ist, nicht entwickelt hat. Bekanntermaßen führten die Divergenzen zwischen Rom und Konstantinopel in den nachfolgenden Jahrhunderten zu gegenseitigen Exkommunikationen mit "Folgen, die – soweit wir sie beurteilen können – über die Absichten und Erwartungen ihrer Urheber hinausgingen, deren Zensuren sich auf die betroffenen Personen und nicht auf die Kirchen bezogen, und die nicht die kirchliche Gemeinschaft zwischen den Stühlen von Rom und Konstantinopel brechen wollten".(1)

4. Der Ausdruck tritt erneut auf in zwei Schreiben des Metropoliten Niketas von Nikomedien (im Jahr 1136) und des Patriarchen Johannes X. Camateros (im Amt 1196-1206). Darin erheben sie Protest gegen Rom, das sich als Mutter und Lehrmeisterin präsentiere und so ihre Autorität aufhebe. Ihnen zufolge ist Rom nur die erste unter Schwestern von gleicher Würde.

5. In der jüngeren Vergangenheit war es der orthodoxe Patriarch von Konstantinopel, Athenagoras I., der als erster den Ausdruck Schwesterkirchen wieder verwendete. Wenn er die brüderlichen Zeichen und den Aufruf zur Einheit entgegennimmt, die Johannes XXIII. an ihn richtet, bringt er häufig in seinen Briefen den Wunsch zum Ausdruck, die Einheit unter den Schwesterkirchen bald wiederhergestellt zu sehen.

6. Das II. Vatikanische Konzil gebraucht den Ausdruck Schwesterkirchen, um die brüderlichen Beziehungen zwischen den Teilkirchen untereinander zu bezeichnen: "Im Orient bestehen viele Teilkirchen oder Ortskirchen, unter denen die Patriarchalkirchen den ersten Rang einnehmen und von denen nicht wenige sich ihres apostolischen Ursprungs rühmen. Deshalb steht bei den Orientalen bis auf den heutigen Tag der Eifer und die Sorge im Vordergrund, jene brüderlichen Bande der Gemeinschaft im Glauben und in der Liebe zu bewahren, die zwischen Lokalkirchen als Schwesterkirchen bestehen müssen".(2)

7. Das erste päpstliche Dokument, in dem sich die Bezeichnung Schwestern auf Kirchen angewandt findet, ist das Breve Anno ineunte von Paul VI. an Patriarch Athenagoras I. Der Papst bekundet zunächst seinen Willen, alles zu unternehmen, "um den Tag herbeizuführen, an dem die volle Gemeinschaft zwischen der Kirche des Westens und der Kirche des Ostens wiederhergestellt sein wird", und stellt dann die Frage: "In jeder Lokalkirche vollzieht sich dieses Geheimnis der göttlichen Liebe, und liegt nicht hier der Ursprung des traditionellen und so schönen Ausdrucks, wonach die Lokalkirchen sich gern als Schwesterkirchen bezeichneten? Dieses Leben als Schwesterkirchen haben wir für Jahrhunderte gelebt, indem wir gemeinsam die Ökumenischen Konzilien feierten, die das Glaubensgut gegen jede Abweichung verteidigten. Jetzt – nach einer langen Periode der Spaltung und des gegenseitigen Unverständnisses, schenkt uns der Herr, uns wiederzuentdecken als Schwesterkirchen, trotz der Hindernisse, die damals zwischen uns errichtet wurden".(3)

8. In der Folge hat Johannes Paul II. den Ausdruck oft benutzt in zahlreichen Ansprachen und Dokumenten, von denen wir nur die wesentlichen in chronologischer Reihenfolge anführen:

  • Die Enzyklika Slavorum apostoli: "Sie [Cyrill und Method] sind für uns die Wegbereiter und zugleich die Patrone der ökumenischen Bemühung des Schwesterkirchen des Ostens und des Westens, um durch Dialog und Gebet die sichtbare Einheit in das vollkommenen und umfasenden Einheit wiederzufinden".(4)
  • In einem Brief von 1991 an die europäischen Bischöfe: "Es ist also angemessen mit diesen Kirchen [den orthodoxen Kirchen] Beziehungen wie mit Schwesterkirchen zu unterhalten gemäß dem Ausdruck von Papst Paul VI. in einem Breve, das an den Patriarchen von Konstantinopel Athenagoras I. gerichtet ist.(5)
  • In der Enzyklika Ut unum sint wird das Thema vor allem in Nr. 56 entfaltet, die folgendermaßen beginnt: "Nach dem II. Vatikanischen Konzil und im Zusammenhang mit jener Tradition wurde die Gepflogenheit wiedereingeführt, den um ihren Bischof versammelten Teil– oder Ortskirchen die Bezeichnung Schwesterkirchen zuzuerkennen. Ein sehr bedeutsamer Schritt aufdem Weg zur vollen Gemeinschaft war die Aufhebung der gegenseitigen Exkommunikationen, wodurch ein schmerzliches Hindernis kirchenrechtlicher und psychologischer Art beseitigt wurde". Der Abschnitt endet mit dem Wunsch: "Die traditionelle Bezeichnung Schwesterkirchen sollte uns aufdiesem Weg ständig begleiten". Das Thema wird in Nr. 60 wieder aufgenommen; dort wird die Beobachtung geäußert: "Vor kurzem hat die gemischte internationale Kommission in der so heiklen Frage der Methode, die bei der Suche nach der vollen Gemeinschaft zwischen der katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche befolgt werden solle, einer Frage, die oft die Beziehungen zwischen Katholiken und Orthodoxen verschlechter hat, einen bedeutsamen Schritt vollzogen. Sie hat die lehrmäßigen Grundlagen für eine positive Lösung des Problems gelegt, die sich auf die Lehre von den Schwesterkirchen stützt".(6)

II. Hinweise für die Verwendung des Ausdrucks

9. Die geschichtlichen Elemente, die in den vorausgehenden Abschnitten dargelegt wurden, zeigen die Bedeutung, die der Ausdruck Schwesterkirchen im ökumenischen Dialog erhalten hat. Dadurch wird die theologisch korrekte Verwendung des Begriffs um so wichtiger.

10. Schwesterkirchen im eigentlichen Sinne sind einzig die Teilkirchen untereinander (oder die Zusammenschlüsse von Teilkirchen, z.B. die Patriarchate untereinander oder die Kirchenprovinzen untereinander).(7) Es muss immer klar bleiben – selbst wenn der Ausdruck Schwesterkirchen in diesem eigentlichen Sinne verwendet wird –, dass die universale Kirche, die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, nicht die Schwester, sondern die Mutter aller Teilkirchen ist.(8)

11. Man kann von Schwesterkirchen im eigentlichen Sinne auch sprechen in Bezug auf katholische und nicht-katholische Teilkirchen. Selbst die Teilkirche von Rom kann also Schwester von allen Teilkirchen genannt werden. Wie jedoch bereits oben in Erinnerung gerufen wurde, kann man nicht im eigentlichen Sinne sagen, dass die katholische Kirche die Schwester einer Teilkirche oder einer Gruppe von Kirchen sei. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Frage der Terminologie; vielmehr geht es um den Respekt vor einer grundlegenden Wahrheit des katholischen Glaubens: der Aspekt der Einzigkeit der Kirche Christi. Denn es gibt eine einzige Kirche, und der Plural Kirchen kann sich nur auf Teilkirchen beziehen.

Folglich ist der Gebrauch von Formulierungen wie "unsere beiden Kirchen" zu vermeiden, weil sie Quelle von Missverständnissen und theologischer Verwirrung sind: Wenn sie auf die katholische Kirche und auf die Gesamtheit der orthodoxen Kirchen (oder auf eine orthodoxe Kirche) angewandt werden, erwecken sie den Eindruck einer Mehrzahl nicht nur auf der Ebene der Teilkirchen, sondern auch auf der Ebene der im Credo bekannten einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche, deren Existenz dadurch verdunkelt wird.

12. Schließlich muss man sich bewusst bleiben, dass der Ausdruck Schwesterkirchen im eigentlichen Sinne – wie die gemeinsame Tradition in Ost und West bezeugt – ausschließlich auf jene kirchlichen Gemeinschaften angewandt werden kann, die einen gültigen Episkopat und eine gültige Eucharistie bewahrt haben.

Rom, am Sitz der Kongregation für die Glaubenslehre,
30. Juni 2000, Festtag des heiligsten Herzens Jesu

+ Joseph Kardinal Ratzinger, Präfekt
+ Tarcisio Bertone S.D.B., em. Erzbischof von Vercelli, Sekretär

 

Im Falle dieses römischen Dokumentes der Glaubenskongregation ist das gemeinsame Nachdenken besonders wichtig: Das Wort "Schwesterkirchen" ist im Sprachgebrauch der ökumenischen Bewegung recht neu. Es ist im orthodox-katholischen Dialog lebendig geworden. Schwesterkirchen – das ist ein Wort voller ökumenischer Hoffnungen! Ich möchte anlässlich des Dokuments einige Problemkreise ansprechen, die der weiteren Bearbeitung in der Theologie wie im Leben der Kirche bedürfen:

1. Ein Lernweg für die (römisch-)katholische Kirche

Das II. Vatikanische Konzil verwendet dieses Wort der alten christlichen Tradition neu für die Ortskirchen, in denen die gläubige Gemeinde mit ihrem Bischof das Evangelium verkündigt und die Sakramente feiert. Das Konzil scheint in der zitierten Stelle die Rede von "Schwesterkirchen" nur auf die orientalischen Kirchen in ihrem Verhältnis untereinander zu beziehen. Die Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium verwendet jedoch einen anderen Begriff, der dem Begriff der Schwesterkirchen sehr nahe kommt, ja vielleicht weitgehend mit ihm identisch ist: den Ausdruck "Teilkirche" (ecclesia particularis). Das Konzil versteht darunter die im Glauben und in der Feier der Sakramente um den Bischof geeinte Diözesankirche. Von den Teilkirchen kann, ja muss im Plural gesprochen werden: "In ihnen und aus ihnen besteht die eine und einzige katholische Kirche" (LG 23). Jede dieser Kirchen verwirklicht im vollen Sinne das Geheimnis der einzigen Kirche Jesu Christi. Sie verwirklicht es aber gerade auf die Weise, dass jede Teilkirche in einer verbindlichen Communio mit jeder anderen Teilkirche steht – und dass diese Communio selbst noch einmal eine Gestalt erhält im Bischof von Rom, der ihre Einheit sakramental repräsentiert. Die vielen "Teilkirchen", die je an ihrem Ort das Geheimnis Christi feiern und dem Heil der Menschen dienen, sind also nicht "Teile" der Kirche Jesu Christi, sondern deren vollgültige Verwirklichung. Die katholische Kirche entdeckt im II. Vatikanum neu, dass sie bereits in sich selbst eine Gemeinschaft von Schwesterkirchen darstellt. Wie Paulus an solche Schwesterkirchen, wenn er seine Briefe "an die Kirche Gottes, die in Korinth ist" richtet, "an die Kirchen Galatiens", "an die Kirche der Thessalonicher" – so dürfen wir in diese große Gemeinschaft eintreten als Kirche von Lausanne-Genève-Fribourg, als Kirche von Buenos Aires, als Kirche von Jerusalem, als Kirche von Minsk, als Kirche von Rom ... Kenner der Theologiegeschichte sagen, dass diese Aussagen des Konzils die tiefsten Neuerungen mit sich bringen und in ihren Konsequenzen bei weitem nicht ausgeschöpft sind. Die erste Anregung, die von der Belebung des Begriffs "Schwesterkirchen" ausgeht, betrifft also die katholische Kirche selbst: Sie entdeckt sich als "Ökumene", als lebendige communio von Schwesterkirchen.

2. Die ökumenische Dimension der "Schwesterkirchen"

Die inspirierende Kraft des Bildes setzt sich fort: Ohne volle Gemeinschaft untereinander sind die Schwesterkirchen nicht, was sie nach Christi Willen sein sollen. Verhalten wir uns innerhalb der katholischen Kirche eigentlich wie "Schwesterkirchen"? Ist die Kirche von Lausanne-Genève-Fribourg als Schwester solidarisch mit der Kirche von Kinshasa im Kongo? mit der Kirche von Karachi in Pakistan? Die neue Aufmerksamkeit für die Schwesterkirchen in der katholischen communio führt auch zur Wahrnehmung und Anerkennung von Kirchen außerhalb ihrer sichtbaren Grenzen, die in der apostolischen Sukzession, im kirchlichen Amt und in der Feier der Sakramente als Schwesterkirchen mit ihr verbunden sind. Als Papst Paul VI. entgegen dem Jahrhunderte alten Protokoll und Selbstbewusstsein päpstlicher Hoheit den ersten Schritt tat und am 25. Juli 1967 dem Patriarchen der "Schwesterkirche" in Konstantinopel einen Besuch abstattete, sprach er in seinem Breve Anno Ineunte von "Schwesterkirchen in fast vollendeter Gemeinschaft": "Dieses Leben als Schwesterkirche haben wir während Jahrhunderten gelebt ... Jetzt, nach einer langen Periode der Spaltung und des gegenseitigen Unverständnisses, schenkt uns der Herr, uns als Schwesterkirchen wiederzuentdecken".

Auch in anderen christlichen Traditionen wuchs dieselbe Erfahrung. So beschreibt der anglikanische Bischof Walter Fryre 1927 die Begegnung mit der russischen orthodoxen Kirche in der "Fellowship of St. Alban and St. Sergius": "Die orthodoxe und die anglikanische Kirche gleichen zwei leiblichen Schwestern, die von früher Kindheit an in verschiedenen, weit voneinander entfernten Städten lebten und einander völlig vergessen hatten; jetzt aber sind sie einander begegnet, haben sich als leibliche Schwestern wiedererkannt und sich miteinander verbunden mit der ganzen Kraft der Liebe aufgrund der Geburt" (zit. nach L. Zander, Bog i mir, 168f.). Auch der Dialog mit den Gemeinschaften, die aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind, nährt die Hoffnung auf eine baldige gegenseitige Anerkennung als Schwesterkirchen. Nach der Unterzeichnung der "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" am 31. Oktober 1999 wächst das Drängen, die Gemeinschaft auch in der gemeinsamen Feier des Abendmahls zu vollziehen.

Die "Note über den Ausdruck Schwesterkirchen", die von der Kongregation für die Glaubenslehre am 30. Juni 2000 veröffentlicht wurde, nötigt zu einer nüchternen Überprüfung dieser optimistischen Gestimmtheit an "Ursprung und Entwicklung des Ausdrucks" (Teil I) und am theologischen Selbstverständnis der katholischen Kirche (Teil II). Das Dokument will den Weg der Einheit im Zeichen der Schwesterkirchen nicht blockieren, sondern vor einer Banalisierung bewahren. Das Wort "Schwesterkirchen" darf nicht zur diplomatischen Floskel einer unverbindlichen gegenseitigen Nicht-Einmischung werden, die vom gemeinsamen Zeugnis für die neue Schöpfung in Jesus Christus himmelweit entfernt ist! Haben wir eigentlich die kritischen Rückfragen unserer orthodoxen Schwestern und Brüder hinreichend zur Kenntnis genommen? Seid ihr überhaupt schon Lokalkirchen geworden, denen das ganze Evangelium Jesu Christi am Herzen liegt?, so fragen sie uns – oder verhaltet ihr euch nicht oft wie provinzielle Vereine zur Pflege eures religiösen Individualismus? Verhaltet ihr euch nicht wie Abteilungen einer großen zentralen Behörde – sei es in einer gefügigen Abhängigkeit oder in einem ebenso unreifen Aufbegehren? Der antiprotestantische Zentralismus der nachreformatorischen Zeiten hat sicher tiefe Spuren in der katholischen Mentalität hinterlassen, die durch neue theologische Formulierungen nicht von heute auf morgen verändert werden können.

Für uns Katholiken ist es erstaunlich und heilsam, dass gerade die orthodoxen Kirchen – oft mehr als wir – an einem Verständnis des römischen Primats als Primat der Liebe und des Dienstes festhalten, ja den Verlust dieser unverzichtbaren kirchlichen Instanz bedauern und ihre Wiederherstellung erstreben! Sie erinnern uns daran, dass die "katholische" Kirche nicht auf die römisch-katholische Tradition eingeschränkt werden kann, sondern von Anfang an in einer Vielfalt von liturgischen und theologischen Überlieferungen verwirklicht war. Sie sind ein heilsamer Widerspruch gegenüber der Tendenz, die eine Kirche Jesu Christi mit einer partikularen konfessionellen Gestalt zu identifizieren.

3. Der Ausdruck Schwesterkirchen als Anlass zur Gewissenserforschung

Die "Note über den Ausdruck Schwesterkirchen" fördert nicht einen Überlegenheitsanspruch der römisch-katholischen Kirche, sondern deren Selbstkritik! Vielleicht kommt das im Text der "Note" zu wenig zum Ausdruck. Haben wir Katholiken wirklich schon gelernt, uns nicht als eine Konfession und auch nicht als eine Schwesterkirche neben Schwesterkirchen zu verstehen, sondern als communio von Schwesterkirchen? Entspricht unsere Praxis schon dieser katholischen, ökumenischen Sicht? Haben wir gelernt, nicht nur in unserer Theologie, sondern auch im gelebten Zeugnis die orthodoxen Kirchen als Schwesterkirchen in unsere communio einzubeziehen und sie in ihren konkreten Sorgen ernst zu nehmen? Haben wir die Mahnung von Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben "Orientale Lumen" beherzigt: "Wehe uns, wenn der Überfluss der einen Seite Anlass zur Demütigung der anderen Seite oder zu fruchtlosem und anstoßerregendem Konkurrenzdenken wäre. Die Gemeinschaften im Westen werden es sich ihrerseits zur Pflicht machen, wo es möglich ist, vor allem den Dienst betreffende Vorhaben mit den Brüdern der Ostkirchen zu teilen oder zur Verwirklichung dessen beizutragen, was diese im Dienst an ihren Völkern unternehmen; und sie werden in Gebieten gemeinsamer Präsenz niemals eine Haltung an den Tag legen, die respektlos gegenüber den mühsamen Anstrengungen erscheinen könnte, für deren Durchführung den Ostkirchen um so höheres Verdienst gebührt, je prekärer ihre zur Verfügung stehenden Mittel sind" (Nr. 23). Sind wir den Ostkirchen bereits "Schwestern" geworden – oder leben wir nicht aus dem Triumph westlicher Überlegenheit? Haben wir wirklich bereits gewürdigt, was uns ihre reiche liturgische und theologische Tradition, ihr geistliches Leben und ihre asketische Praxis lehren können?

Ich zögere, es von mir aus zu sagen – aber ich könnte mir vorstellen, dass eine ähnliche "Gewissenserforschung" auch zwischen den verschiedenen orthodoxen Traditionen am Platz ist. Die Mühen in der Vorbereitungen des Großen und Heiligen Panorthodoxen Konzils geben dazu Anlass.

4. Schwesterkirche und Mutterkirche

Eine Vorbemerkung: Von der "Mutterkirche" kann in verschiedenem Sinn gesprochen werden. In einem umfassenden geschichtlichen Sinne ist die Kirche von Jerusalem die "Mutter aller Kirchen", denn von hier aus nahm die Verkündigung des Evangeliums ihren Ausgang. In einem engeren geschichtlichen Sinne kann diejenige (Lokal-)Kirche als "Mutterkirche" einer anderen bezeichnet werden, die diese andere Lokalkirche durch ihre Verkündigung eingepflanzt hat oder zu ihr in einem Verhältnis besonderer Verantwortung steht. Die "Note" der Glaubenskongregation spricht von der "Mutterkirche" nicht in diesem historischen, sondern im theologischen Sinne: Sie bezeichnet damit die eine Kirche Jesu Christi, insofern sie allen geschichtlichen Gestalten der Kirche vorausliegt und diese zur Einheit verbindet. Diese Rede von der "Mutterkirche" erinnert daran, dass die eine Kirche Jesu Christi nicht aus der Addition der Lokalkirchen hervorgeht, sondern dass die Vielfalt dieser Lokalkirchen in einer tieferen, in Jesus Christus bereits geschenkten Einheit gründet.

Ist also die katholische Kirche die Mutterkirche, die Mater et magistra aller Völker? Die "Note" aus Rom spricht hier weit bescheidener als viele ihrer Kommentatoren: Die Kirche von Rom ist zunächst selbst eine Teilkirche, sie ist Schwesterkirche jeder anderen Teilkirche, z.B. des Bistums Basel. Die Kirche von Rom ist als Sitz des Patriarchen des Abendlands Schwesterkirche der übrigen Patriarchate. In ihrer Berufung zur Repräsentation der Mutterkirche, d.h. der einen Kirche Jesu Christi, bezeugt die Kirche von Rom eine Wirklichkeit, die zugleich das Geheimnis jeder Lokalkirche ausmacht. Dieser Dienst ist auf sakramentale Weise zu vollziehen, d.h. im aufmerksamen Hören darauf, was der Geist den Gemeinden sagt (Offb 3,22), nicht etwa als eine äußere Überfremdung der übrigen Lokalkirchen durch die begrenzten Einsichten einer Lokalkirche. Ohne ein sichtbares, sakramentales Zeichen der Einheit aller Teilkirchen fehlt etwas am Zeugnis der Kirche Jesu Christi. Diese kritische Rückfrage gegenüber der Orthodoxie ist aufrechtzuerhalten. Die Teilkirchen sind "verwundet", solange sie nicht in der vollen communio mit all ihren Schwestern im Herrn leben. Schon 1992 hat die Glaubenskongregation in dem "Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte der Kirche als communio" betont, was Dominus Jesus 2000 wiederholt: Auch die katholische Kirche trägt "eine Wunde", denn in der Situation der Trennung ist es ihr unmöglich, "ihre Universalität in der Geschichte voll zu verwirklichen" (Nr. 17). Die römisch-katholische Kirche und die orthodoxen Kirchen in ihrer Gesamtheit sind nicht "zwei Kirchen" nebeneinander; die katholische communio der Kirchen sowie die orthodoxen Kirchen sind vielmehr gemeinsam als Schwesterkirchen sakramentaler Ausdruck der einen und einzigen Kirche Jesu Christi auf der Suche nach der je glaubwürdigeren Gestalt des sakramentalen Zeichens ihrer Einheit. Für dieses Zeichen gilt weiterhin die Frage, die Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Ut unum sint gestellt hat: Wie kann der Bischof von Rom seinen Primat so wahrnehmen, dass die communio mit ihm die Identität der Lokalkirche nicht beeinträchtigt, sondern sie aus ihrer konfessionellen Partikularität befreit und sie in die eine Kirche Jesu Christi in ihrer geschichtlichen Verwirklichung eingliedert?

5. Gemeinsame Bekehrung. Der Beitrag der Theologie

Die "Note über den Ausdruck Schwesterkirchen" ruft zu einer gemeinsamen Bekehrung zu dem Herrn und Heiland auf, durch dessen Wunden wir geheilt sind (vgl. 1 Petr 2,24; Jes 53,5). Die gemeinsame Bekehrung zu Jesus Christus und die je größere Liebe zu unseren Schwesterkirchen auf der ganzen Welt ist die innere Zielrichtung der römischen "Note". "Schwesterkirchen" – dies Wort bleibt ein Zeichen ökumenischer Hoffnung! Doch nicht die theologische Präzision allein, sondern erst das glaubwürdigere Zeugnis für die je größere katholische Weite unseres Glaubens erfüllt es mit Leben. Herr, erwecke Deine Kirche – und fange bei mir, bei uns an! Auf diesem Weg kann und sollte die Theologie einen wesentlichen Beitrag leisten. Die historische und die theologische Dimension sind dabei zu berücksichtigen:

Die "Note" enthält eine lange und für mich sehr spannende Dokumentation über die Verwendung des Begriffs Schwesterkirchen. Mir ist dabei deutlich geworden,wie kurzatmig unser geschichtliches Bewusstsein auch im kirchlichen Bereich häufig ist. Wenn ich das Breve Pauls VI. an Patriarch Athenagoras lese, wenn ich manche Dokumente der Ökumenischen Bewegung aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts studiere, dann muss ich beschämt sagen, dass wir in vieler Hinsicht heute nicht weiter sind, sondern eher Rückschritte gemacht haben. Wenn wir noch weiter in die Geschichte zurückblicken, entdecken wir ein reiches gemeinsames Erbe, das wir uns gegenseitig erschließen helfen könnte und ohne diese gegenseitige Hilfe vielleicht beide zu verlieren drohen. Vermutlich wäre es eine große Entlastung des heutigen Dialogs, wenn wir einmal in der Geschichte von Ost und West die Frage stellen: Welche Bedingungen waren gemäß der jeweiligen Ekklesiologie im ersten christlichen Jahrtausend gesetzt, damit eine Ortsgemeinde, deraus bestimmten Gründen die Communio verweigert wurde, dennoch als Ortskirche anerkannt wurde? Welche Mängel einer Ortskirche hatten also nicht zur Folge, dass sie die Würde einer Ortskirche bzw. Schwesterkirche verlor? Welche Kriterien werden derzeit innerhalb der Orthodoxie für die Anerkennung als Schwesterkirche angewandt?

Das geschichtliche Studium könnte uns helfen, auch die theologische Frage unvoreingenommener zu behandeln: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit zu einer Lokalkirche im vollen, uneingeschränkten Sinne gesagt werden darf, dass sie die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche verwirklicht und folglich als Schwesterkirche anzuerkennen ist? Vielleicht kämen wir auf diesem Wege zu einer Umkehrung der Fragestellung: Nicht länger: Was muss geschehen, damit wir die Anerkennung als Schwesterkirche vollziehen können, sondern: Was rechtfertigt es eigentlich, dass wir uns die Anerkennung als Schwesterkirche nicht im vollen Sinne gewähren?

  1. Paul VI. und Athenagoras I., Gemeinsame Erklärung "Durchdrungen von Dankbarkeit” (7.12.1965), Nr. 3: AAS 58 (1966) 20. Die Exkommunikationen wurden 1965 wechselseitig aufgehoben: "Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras I. in seiner Synode, ... erklärten übereinstimmend: ... Wir bedauern zugleich und tilgen aus der Erinnerung und aus der Mitte der Kirche die Exkommunikationssentenzen” (ebd. Nr. 4); vgl. auch Paul VI., Apostolisches Schreiben "Ambulate in dilectione” (7.12.1965): AAS 58 (1966) 40-41; Athenagoras I., Tomos Agapis (7.12.1965), Vatikan – Phanar 1958-1970, Rom – İstanbul 1970, 388-390.

  2. II. Vatikanisches Konzil, Dekret Unitatis redintegratio, Nr. 14.

  3. Paul VI., Breve Anno ineunte (25.7.1967): AAS 59 (1967) 852-854.

  4. Johannes Paul II., Schreiben Slavorum apostoli (2.6.1985), Nr. 27: AAS 77 (1985) 807-808.

  5. Johannes Paul II., Schreiben an die europäischen Bischöfe über "Die Beziehungen zwischen Katholiken und Orthodoxen in der neuen Situation von Mittel- und Osteuropa” (31.5.1991), Nr. 4: AAS 84 (1992) 167.

  6. Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint (25.5.1995), Nr. 56.60: AAS 87 (1995) 921-982.

  7. Vgl. die Texte des Dekrets Unitatis redintegratio, Nr. 14, und aus dem Breve Anno ineunte von Papst Paul VI. an Athenagoras I., zit. oben in Anm. 2 und 3.

  8. Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben Communionis notio (28.5.1992), Nr. 9: AAS 85 (1993) 838-850.

Prof. Barbara Hallensleben
Minsk, 10. Oktober 2000