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Vladimir Solov’ev




Tatjana Sytenko
München

Einige Gedanken über das Gottmenschentum

Beim Lesen des Werkes Vladimir Solov’evs "Geschichte und Zukunft der Theokratie" war ich besonders stark durch jenes Fragment beeindruckt, das zum Motto des vorliegenden Beitrages ausgewählt werden könnte: "Das völlige Ineinanderfließen des inneren Reiches Gottes mit dem äußeren tritt als Ziel unserer Anstrengungen auf". Das Fragment ist kurz, spricht dafür aber Bände. Um es richtig zu verstehen, gibt es wohl keinen besseren Weg, als Vladimir Sergejevic selbst darüber sprechen zu lassen. Und im weiteren tue ich dies gerne.

Die Erfüllung religiöser Träume von der glücklichen Zukunft (bzw. von dem Reich Gottes) darf nicht als Folge einer fortdauernden, rein menschlichen Entwicklung aufgefasst werden. Gleichzeitig existiert das Reich Gottes nicht für sich allein; es realisiert sich als Gottmenschentum oder Gottmenschheit. Inwieweit das Prinzip des Gottmenschentums für die Weltsicht Solov’evs wichtig ist, zeigt die Tatsache, dass die Verwirklichung dieses Prinzips die Dominante des russischen Traums (bzw. der Russischen Idee) ausmacht.

Unter dem philosophisch-theologischen Begriff des Gottmenschentums verstand Solov’ev das Zusammenwirken und die gegenseitige Durchdringung der göttlichen und menschlichen Anfangsgründe. Weiterhin bedeutet das Gottmenschentum für ihn die Sophianische Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur.

Verwirklicht schon in Jesus Christus findet diese Vereinigung einigermaßen in jedem von uns und in der gesamten Menschheit statt. Das Gottmenschentum ist möglich, weil unsere menschliche Natur der des Menschensohnes gleicht.

Schon mit seinem Namen - Jesus Christus - bezeugt unser Gott, dass das Göttliche und das Menschliche untrennbar verbunden sind. Immer wieder prägt Er uns ein: Jeder von uns impliziere die göttlichen Qualitäten; es komme nur auf uns selbst an, diese zu entfalten (Mt 17,20; Lk 17,6; Joh 14,12); und dies ist soweit möglich, dass "nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir", wie der Apostel Paulus an die "unvernünftigen" Galater geschrieben hat (Gal 2,20a).

Die "Mechanik" des Gottmenschentums, seine "Technologie" läuft - teilweise - auf die Synergie, d.h. auf das Zusammenwirken der göttlichen und der menschlichen Energien hinaus. Einige der Bedingungen des Geschehens hängen von uns ab. Es sind das Gebet, die Katarsis (Läuterung von Lastern) und das Streben nach der Realisierung der Gottähnlichkeit. Meint Solov’ev nicht dasselbe, indem er in "Russland und die universale Kirche" schreibt, dass wir uns das Reich Gottes "durch eigene Arbeit aneignen": Das "Reich Gottes muss mit Gewalt erobert werden?

In seinen fundamentalen Werken wie "Vorlesungen über das Gottmenschentum", "Die Rechtfertigung des Guten" und "Kritik der abstrakten Prinzipien", auch in kleinen Abhandlungen wie "Die Idee der Menschheit bei August Comte" spricht Solov’ev von den nachstehenden Aspekten des Phänomens:

Zum ersten: Das Gottmenschentum als Offenbarung der All-Einheit.

Hier wird die Einseitigkeit des Monismus hervorgehoben, die eine tote, unterdrückende Einheit bedeutet. All das ist verkehrt und widerlich, wo sich ein Teil übermäßig vergrößert, indem er einen anderen seiner Freiheit beraubt. "Erst wenn wir zugeben" – heißt es in den Solov’evschen "Vorlesungen über das Gottmenschentum" - dass jeder wirkliche Mensch mit seinem tiefsten Wesen in der ewigen göttlichen Welt wurzelt, dass er nicht nur eine sichtbare Erscheinung ... darstellt, sondern ... ein notwendiges und unersetzliches Glied des absoluten Ganzen, erst dann ... können zwei große Wahrheiten vernünftigerweise zugegeben werden ..., die Wahrheit von der Freiheit und die Wahrheit von der Unsterblichkeit des Menschen". Und weiter fügt der Philosoph hinzu: "Der Mensch ist frei von der Macht des natürlichen Faktums... nur aus der Kraft der göttlichen Idee".

Zum zweiten: Ein besonderes Thema macht das Gottmenschentum als Sophiaverkörperung aus. Dadurch werden wir darauf aufmerksam gemacht, dass sich die "lebendige Seele der Welt" als die vollkommene Menschheit erweist. Diese reine Menschheit vollzieht die Verbindung von Allem mit Gott.

Zum dritten: Solov’ev hebt das Thema des Gottmenschentums als christliche Anthropologie hervor. "In uns" sagt er, "in uns, aber nicht in den Sternen des Himmels und nicht in den Tiefen des Tartarus, wohnen die ewigen Kräfte des ganzen Universums. "Der Mensch gehört beiden Welten zugleich an". Er ist ein Bindeglied "zwischen der göttlichen und der natürlichen Welt". "Der Mensch vereint alle möglichen Gegensätze in sich".

Nach Solov’ev und seinen Schülern erweist sich die Menschlichkeit als Haupteigenschaft Gottes. Gleichzeitig ist der Mensch dazu berufen, seine in ihm schlummernde Göttlichkeit zur Entfaltung zu bringen. Wenn dem so ist, können wir die Kriterien für Gott und den Menschen als korrelativ betrachten. Somit schafft die christliche Anthropologie eine mächtige Basis für den christlichen Humanismus mit seiner hohen Vorstellung über die Würde und grenzenlosen Möglichkeiten des Menschen.

Die Auffassung des menschlichen Werdens als das Werden der Gottmenschheit wird durch das "neue religiöse Bewusstsein" verstärkt. Für die Einstellung der damaligen offiziellen Kirche war die göttliche Natur Christi das Wichtigste. Indessen konzentrierten sich Solov’ev und seine Nachfolger nicht weniger auf seine Menschlichkeit.

Indem die russische religiöse Philosophie die durch und durch erstarrte "mittelalterliche Weltanschauung" überwindet, kommt folgendes ans Licht: Das neue religiöse Bewusstsein, dessen Begründer Vladimir Solov’ev war, entbindet die Christen von einem "juristischen" Begreifen ihres Glaubens, von einem Verhältnis zu Gott als erschreckendem Richter.

Es entsteht eine organische Verbindung der christlichen Anthropologie mit jener heilbringenden Ethik, welche die menschliche Fähigkeit, Christus zu folgen, als realisierbar betrachtet und darüber hinaus uns dazu bewegt, mit Christus eins zu werden. Infolgedessen erfüllt sich das Begreifen des Christentums als Religion der geistigen Verklärung und der Liebe mit tieferem Inhalt.

Nun wenden wir uns - Solov’ev folgend - jener Facette des Gottmenschentums zu, die die Qualität von freier Wahl ausdrückt. Diese richtet sich gegen alle Formen der Gewalt, insbesondere gegen den gottlosen Sozialismus, den unmenschlichen Kapitalismus und die Theokratie des "abstrakten Klerikalismus". Der Denker geht in "Die Rechtfertigung des Guten" davon aus, dass der Mensch für Gott teuer ist, "aber nicht als ein passives Werkzeug Seines Willens angesehen wird, sondern als freiwilliger Bundesgenosse und Teilnehmer an Seinem universalen Werk ...". Und in den "Philosophischen Prinzipien eines ganzheitlichen Wissens" treffen wir eine ähnliche Schlussfolgerung: "Der Mensch kann wirklich frei sein lediglich in der innerlichen Verbindung mit der wahren Religion".

Von großer Bedeutung erweisen sich die Solov’evschen Reflexionen über die Freiheit. Diese Gedanken erklären uns insbesondere, warum die Vorstellungen von der Gottmenschheit erst in Russland wiedergeboren worden waren.

Verallgemeinernd gesehen, erweist sich die Freiheit für die Menschen des Westens lediglich zeitweise als religiös. Für die Russen ist sie dagegen nicht "unter anderem" religiös, sondern "vor allem und immer". Woran kann man die Freiheit erkennen? Wo "der Geist des Herrn ist", antwortet Solov’ev, "da ist auch die Freiheit. Jede andere Freiheit, die nicht zu dem teuren Preis der Selbstverleugnung im Glauben und Gehorsam erkauft ist, ist falsche Münze der sittlichen Welt".

Wie hoch der Mensch mit seiner persönlichen Würde und Freiheit von der russischen religiösen Philosophie eingeschätzt wird, zeugen Solov’evs Zeilen in den Artikeln über Mickiewi… z und Dostojewski: "Es kann und soll keine Autorität geben, die unsere Vernunft und das Gewissen ersetzen und eine freie Forschung unnötig machen würde. Die Kirche muss, ebenso wie das Vaterland, wie auch das biblische ‘Weib der Jugend’, für uns eine innere Kraft unermüdlicher Bewegung zum ewigen Ziele haben und nicht ein Ruhekissen sein". "Die einzelnen Personen, sogar die besten haben kein Recht Gewalt auszuüben". Und noch ein Zitat aus der Abhandlung "Philosophische Prinzipien eines ganzheitlichen Wissens": "Nur der ist frei, der den anderen die Freiheit gibt". Vergessen wir nicht, dass Solov’ev die Freiheit als "religiöse Freiheit" versteht, die mit der "sittlichen Notwendigkeit" übereinstimmt. Obwohl diese letztere ganz und gar notwendig bleibt, bedeutet die religiöse Freiheit eine Erhöhung über die psychologische Notwendigkeit seelischer Affekte hinaus und befreit von allen niederen Motivationen.

Des Weiteren betrachtet Solov’ev das Gottmenschentum als Lebenssinn, der darin besteht, dass man trachtet, seine (nicht die fremde!) Stellung in der göttlichen Schöpfung zu finden. Diese Einsicht Solov’evs durchdringt sein ganzes Schaffen. Der Sinn jeder individuellen Existenz wird in der "inneren Verbindung mit der allgemeinen Wahrheit" erfasst.

Der Mensch solle nach jener Einheitlichkeit streben, welche die Erzielung des Konsenses zwischen Gutem, Schönem und Wahrem bedeutet.

In den angeführten Thesen behandelt der Philosoph den "Lebenssinn" als "Lebensziel". Dieses ist nicht ein willkürliches und zufälliges; es "besteht darin, dass wir das, woran wir glauben, nun tatsächlich Wirklichkeit werden lassen, dass wir die Wirklichkeit unseres menschlichen Lebens und der ganzen Welt umschaffen nach dem Bild und Gleichnis der christlichen Wahrheit". Vor die Alternative gestellt, die später Erich Fromm formulierte - "die Existenzweise des Habens oder die des Seins" - entschied sich Solov’ev für eine dritte Möglichkeit. Seine Wahl fiel auf die Existenzweise des schöpferischen Tuns.

Am Anfang des Vortrages sprachen wir davon, dass die Idee des Gottmenschentums nicht nur auf das Zusammenwirken der göttlichen und der menschlichen Energien hinweist, sondern auch auf das Streben der Menschen nach der Realisierung ihrer Gottähnlichkeit.

Viele Male kehrte Vladimir Sergejevic zu diesem grundlegenden Gedanken zurück und suchte ihn zu vertiefen. Ganz besonders ziehen uns seine Bemerkungen von der Geltung des Gottmenschentums für die Umgestaltung des menschlichen Daseins an.

Nach Solov’ev erinnert uns das Gottmenschentum mindestens an dreierlei - nämlich daran,

  1. wie tief die Menschen in die gegenwärtige Diesseitigkeit versunken sind, die Solov’ev als unnormales und unwahres bezeichnet, aber auch als Tiermenschentum, sich selbst zerreißendes Tier;
  2. inwieweit unsere Annäherung an die ersehnte All-Einheit fortgeschritten ist - an jene All-Einheit, die mit der universalen Solidarität identisch ist;
  3. dass eine vorrangige Bedeutung die soziale Einverleibung Jesu Christi hat. In diesem Zusammenhang werden solche Schlüsselbegriffe eingeführt wie die soziale Demokratie und die Gynäkokratie, bei der "die ökonomische Tätigkeit zweifelsohne den Frauen gehört".

Hier erlaube ich mir, auf die Frage zu antworten, wer in der gegenwärtigen Welt den Solov’evschen Vorstellungen über die zoziale Demokratie am nächsten steht. Ich meine das föderale Land, wo unser Internationales Ökumenisches Symposium stattfindet. Es hat allerdings noch viel zu tun, besonders wenn wir den Geist des Antichrists in Betracht ziehen, der in den Medien herrscht. Aber, wie die Deutschen zu sagen pflegen, immerhin.

Ich möchte an die Schlussgedanken der "Vorlesungen über das Gottmenschentum" erinnern, die den Wahrheitssuchenden einen Königsweg erhellen: "Wenn die wahre gottmenschliche Gesellschaft, nach dem Bild und Gleichnis des Gottmenschen selbst geschaffen, die freie Übereinstimmung des göttlichen und menschlichen Prinzips darstellen soll, so ist sie offenbar von beiden bedingt, sowohl von der wirkenden Kraft des ersten wie auch von der mitwirkenden Kraft des zweiten. Es ist also zu fordern, dass die Gesellschaft erstens das göttliche Prinzip (die Wahrheit Christi) in aller Reinheit und Kraft bewahre, und zweitens, dass sie das Prinzip der menschlichen Eigenaktivität in aller Fülle entfalte".

Die Solov’evsche Theorie zeichnet sich mit einer wunderschönen Erhabenheit und mit der Reinheit sittlicher Vorstellungen aus. Gleichzeitig ist sie eng mit dem realen Leben verbunden und zieht dessen Schwierigkeiten und Widersprüche in Betracht. Diese Hindernisse können nicht ohne Kompromisse überwunden werden, und unser ganzes Leben – die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, bis zum Ende der Geschichte – stellt eben einen faktischen Kompromiss zwischen der höchsten Wahrheit und der ihr nicht entsprechenden Umwelt, in der sie sich zu verwirklichen sucht, dar. Der Philosoph anerkennt realistisch die Notwendigkeit von Kompromissen. Im Referat "Vom Verfall der mittelalterlichen Weltanschauung" betont er, die "wahrhaftige Vervollkommnung fordere, dass das ideelle Prinzip die entgegenwirkende Umwelt immer tiefer durchdringe und beherrsche".

Als wichtige Ergänzung zum Gesagten erweisen sich im selben Referat folgende Bemerkungen:

Auf diesem Weg schlägt der Begründer der russischen religiös-philosophischen Klassik ein Kriterium (Verfahren) vor, das niemals versagt: "Man braucht nur, bevor man sich zu irgendeinem Schritt entscheidet, der für das persönliche und gesellschaftliche Leben Bedeutung hat, in seiner Seele das sittliche Bild Christi wachzurufen, sich darauf zu konzentrieren und sich zu fragen: könnte Er diesen Schritt tun, oder - mit anderen Worten - wird Er ihn gutheißen oder nicht, wird Er mich, wenn ich ihn tue, segnen oder nicht? Allen möchte ich diese Überprüfung vorschlagen, - sie trügt nicht. In jedem Zweifelsfalle, wenn nur die Möglichkeit zur Besinnung und zum Nachdenken geblieben ist, erinnert euch an Christus, stellt Ihn euch vor als den Lebendigen, der Er ja ist, und legt die ganze Last eurer Zweifel auf Ihn. Er hat ja schon im Voraus eingewilligt, mit allen anderen Lasten auch diese auf Sich zu nehmen, natürlich nicht, um euch die Hände zu jeder Greueltat frei zu machen, sondern damit ihr, wenn ihr euch zu Ihm wendet und auf Ihn stützt, euch des Bösen enthalten und in diesem zweifelhaften Falle zu Mittlern Seiner unzweifelhaften Gerechtigkeit werden könnt. Wenn alle Menschen guten Willens, sowohl die Privatpersonen wie auch die bahnbrechenden Männer des sozialen Lebens und die Lenker der christlichen Völker künftig in allen zweifelhaften Fällen dieses verläßliche Mittel anwenden würden, dann wäre das schon der Beginn der Wiederkunft Christi und die Vorbereitung zu Seinem Jüngsten Gericht, - denn die Zeit ist nahe (Offb 1,3).

Des öfteren kann man zwar hören, angesichts der "schlechten menschlichen Natur" sei eine solche Erneuerung reine Phantasie. Doch wenn dem auch so wäre und unsere Natur in Wirklichkeit schlecht wäre, so müssen wir daraus just die Lehre der russischen Denker ziehen: Wir brauchen ein Ideal eben darum, um das Tiermenschentum in Gottmenschentum zu verwandeln. Deswegen soll das Ziel antinomisch sein. Es übersteigt zwar unsere Kräfte, und doch kann es von uns gemeistert werden. "Es ist dem Menschen natürlich, besser und mehr sein zu wollen, als er in Wirklichkeit ist", - lesen wir im Solov’evschen Artikel "Die Idee des Übermenschen". – "Aber ist das nicht sinnlos – besser, höher, mehr zu sein, als die eigene Wirklichkeit ist. Ja, es ist sinnlos für das Tier, da für das Tier die Wirklichkeit das ist, wodurch es gemacht wird, das was über es herrscht". Die Idee über die grenzenlosen Möglichkeiten des wahrhaftig glaubenden Menschen zieht sich durch Solov’evs Lebenswerk wie ein roter Faden hindurch. Aber der Philosoph (beachten wir das!) pflegte zu betonen, dass diese Idee in der Heiligen Schrift wurzelt. Steht es doch geschrieben: "Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun ..." (Joh 14,12); "und euch wird nichts unmöglich sein" (Mt 17,20).

Indem das verborgene Mysterium des dialektischen Zusammenhangs zwischen Gott und dem Menschen entdeckt worden war, hatte das Christentum einen Wandel erfahren - jene qualitative Änderung, die wir heute als kreativ einschätzen können. Russlands großer Denker verleiht vielen Facetten unseres Glaubens, die im Laufe der Geschichte getrübt worden waren, jenen Glanz und jene Frische, welche das Christentum für die Gegenwart noch anziehender machen. Das neue religiöse Bewusstsein von Solov’ev und seinen Nachfolgern ist das Bewusstsein einer unzertrennbaren Verbindung der schöpferischen Erneuerung mit christlicher Tradition.

Die durch Solov’ev vollbrachte historische Tat besteht darin, dass er den Begriff des Gottmenschentums in seiner vollen Bedeutung wiederhergestellt hat. Wie es in "Geschichte und Zukunft der Theokratie" ausgedrückt ist: "Unsere weltumfassende Prädestination kann sich nicht von selbst, ohne unsere Handlung erfüllen, aber wir können nicht handeln, ohne zu wissen, was zu tun und wohin zu gehen ist".

Abschließend ist mir wichtig, die optimistische Bedeutung des Lebenswerkes Solov’evs hervorzuheben. Es klingt zwar paradox, denn eine völlige Verwirklichung der gottmenschlichen Idee ist ohne gigantische Kollisionen und Katastrophen undenkbar. Aber Solov’ev bringt uns die Kunst bei, die typisch russische eschatologische Haltung nicht so sehr negativ als vielmehr positiv und lebensbejahend zu begreifen. Die Schule der russischen Weisheit lehrt uns, Angst zu überwinden: Erweist sich doch letztlich das Ende als zu begehrende Wende, wie davon der Schwanengesang Solov’evs, "Kurze Erzählung vom Antichrist" zeugt.

Eine unvergängliche Bedeutung dieses Werkes besteht darin, dass es vor der Unzulässigkeit eines uferlosen Pessimismus warnt. Für einen Solov’ev stellt die Eschatologie lediglich eine der Facetten seiner Weltempfindung dar. Sie existiert nur als Kontrapunkt zum freudigen Glauben an die Auferstehung und an ewiges Leben in Gott.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, kommen wir zum Anfang dieser Betrachtungen zurück: Das Gottmenschentum stellt nach Solov’ev das Zusammenwirken der göttlichen und menschlichen Anfangsgründe, die Sophianische Einheit der göttlichen und menschlichen Natur dar.

In der Schule Solov’evs beginnt unsere docta ignorantia (wissendes Unwissen), das gottmenschliche Mysterium einigermaßen zu entziffern. Wir werden uns darüber bewusst, dass das Gottmenschentum kein monistisches Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-auch zum Ausdruck bringt. Im Göttlichen nehmen die Solovianer das Menschliche wahr; im Menschlichen - das Göttliche. Dabei findet keine Vermischung statt, und jeder bewahrt seine Identität. Ergo: Vielfalt in Einheit, Einheit in Vielfalt.

Mein bescheidener Beitrag zum 100. Todestag des großen russischen Geistes, Vladimir Sergejevic Solov’ev, stand unter dem Motto: "Das völlige Ineinanderfließen des inneren Reiches Gottes mit dem äußeren tritt als Ziel unserer Anstrengungen auf".

Gebet, Katarsis, Streben nach Christi Vorbild. "Seid ihr vollkommen wie Euer himmlischer Vater vollkommen ist"(Mt 5,48).