OKI-Logo Symposion über
Vladimir Solov’ev




Prof. Dr. Andrej Danilov
Minsk

Ökologisches Verständnis der Schöpfung bei Vladimir Solov’ev

In den letzten Jahren ist die ökologische Problematik eines der aktuellsten und oft diskutierten Themen in der Theologie geworden. Es zeichnet sich in der Theologie sogar die Herausbildung eines neuen Wissenschaftsfeldes ab, der christlichen Ökologie. Es scheint, dass nur ein paar Jahrzehnte zurück sich die Theologen überhaupt nicht mit diesem Problemfeld beschäftigten. Aber auch die Ökologie selbst ist eine ziemlich neue Disziplin.

Doch ist eine solche Anschauung grundfalsch. Die Konzeption der christlichen Ökologie beginnt sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zu bilden auf der Schnittebene der orthodoxen Anthropologie und der religiös philosophischen Doktrin über die All-Einheit. Zum erstenmal wurde die Konzeption der christlichen Ökologie in den Werken des großen russischen religiösen Denkers Vladimir Solov’ev (1853-1900) begründet. Das konzeptionelle Herangehen dieses Philosophen an die Problematik der erforderlichen neuen Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und der Natur greift den Intentionen der gegenwärtigen ökologischen Denkweise auf ein Jahrhundert voraus.

Soviel mir bekannt ist, und das bestätigt auch Prof. Hans Gleixner, wurde die Frage nach der Priorität Solov’evs in der Herausbildung der Konzeption der christlichen Ökologie noch von niemandem gestellt. Einzelaussagen darüber und Gedanken Vladimir Solov’evs wurden in manchen seiner Werke verstreut gefunden und bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zusammengefasst, mit Ausnahme der kurzen Bemerkung zum Thema bei Hans Gleixner in seinen Büchern: "Vladimir Solov’evs Konzeption vom Verhältnis zwischen Politik und Sittlichkeit. System einer sozialen und politischen Ethik" (Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main-Bern-Las Vegas 1978) und "Die ethische und religiöse Sozialismuskritik des Vladimir Solov’ev. Texte und Interpretationen" (EOS Verlag, Erzabtei St. Ottilien 1986). Die Problematik der Liebe zur Schöpfung und der Solidarität mit der Natur, worüber in seiner Enzyklika vom 1. September 1989 Patriarch Dimitrios I. von Konstantinopel schrieb, entspricht der Problematik, die von Vladimir Solov’ev am Ende des 19. Jahrhunderts gedankenvoll berührt worden war. Bei Solov’ev finden wir zum erstenmal Vorstellungen zur Begründung der Wichtigkeit einer Einführung eines Schöpfungstages in den Kalender der kirchlichen Feiertage, wozu im obenerwähnten Schreiben auch der Ökumenische Patriarch aufrief.

Indem er die Ethikgrenzen über den Bereich der sozialen Beziehungen hinaus ausdehnt, kommt Solov’ev zur Frage der Öko-Ethik. Die Sittlichkeit, der gemäß die sittliche Person sowohl Rechte impliziert, die diese Person nutzt, aber auch Pflichten, die sie erfüllt. Dieses Postulat verbreitete die Ethik, darunter auch die kantianische, vor Solov’ev nur auf die sozialen Beziehungen. Vladimir Solov’ev hält das Kant vor in seinem "Brief über die soziale Frage" (1892, er fehlt in der russischen Übersetzung und es gibt ihn nur ein französisches Original des Briefes: siehe den Text bei Hans Gleixner in "Die ethische und religiöse Sozialismuskritik des Vladimir Solov’ev. Texte und Interpretationen", S.334-335). Solov’ev entwickelt und dehnt den Wirkungskreis dieses Postulats nicht nur auf die menschliche Gesellschaft aus, sondern auch auf die subhumane Welt der Natur: die sittliche Person hat Pflichten "auch gegenüber der niederen Welt, gegenüber der ERDE [im französischen Original steht es mit dem Großbuchstaben la TERRE geschrieben, s. Hans Gleixner, S.334] und allem, was sie bewohnt".

Solov’ev baut seine These offensichtlich auf dem alttestamentlichen Text von Genesis 2,15auf: "Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte". Vladimir Solov’ev gibt seine eigene Exegese des biblischen Textes, die ihm zur Grundlage für die Erweiterung des kantianschen kategorischen Imperativs dient, nämlich dass es dem Menschen nicht erlaubt ist, die Natur nur als Mittel für die Erreichung des Zweckes auszunutzen. Solov’ev schreibt: "Wenn er [der Mensch] das Recht hat, die materielle Natur zu seinem und zum Nutzen seiner Nächsten auszubeuten, so hat er auch die Pflicht, diese Natur zu pflegen und zu vervollkommnen zum Wohle der niederen Wesen selber, die er folglich nicht als einfaches Mittel, sondern auch als ein Ziel betrachten muss".

Solov’ev betrachtet "die Bebauung und die Hütung" der Erde in zwei Aspekten: quantitativ und qualitativ. Diese beiden Aspekte des Umgangs mit der Natur unterscheiden sich prinzipiell voneinander. Die quantitative Ausnutzung der Güter der Erde geschieht in großem Maße zu dem Zweck und zum größtmöglichen Nutzen, um "die Bedürfnisse aller zu befriedigen". Sie kann erfolgreich geschehen "nur unter den Bedingungen des Gemein- oder Staatseigentums". Im Gegensatz dazu verlangt die qualitative Bebauung, Hütung und Vervollkommnung der Natur "eine individuelle Beziehung zwischen dem Menschen und dem Gegenstand seiner Arbeit". Der qualitative Umgang mit der Natur, so Hans Gleixner, sei von Solov’ev zweifelsohne höher bewertet. Angemessene Voraussetzung einer individuellen Beziehung des Menschen mit der Umwelt (Natur) ist für Solov’ev das Privateigentum (s. J.Huret "Enquête sur la question sociale en Europe" (1897), p.312-313).

Wenden wir uns an eine ähnliche Passage bei Vl. Solov’ev in seinem Buch "Rechtfertigung des Guten", Teil 3. Er schreibt: "Die unveräußerliche Grundlage des Eigentums… besteht im Wesen der menschlichen Persönlichkeit". Es handelt sich um die Ungleichheit und die Unzertrennbarkeit von "Sich" und "Seines". Das erste stellt sich höher als das zweite, aber es kann nicht ohne dieses existieren. Ein wenig weiter formuliert Solov’ev die Definition des Eigentums: "Das Eigentum ist die ideelle Fortsetzung der Persönlichkeit in Dingen oder ihre Übertragung auf Dinge". Das Eigentum also verbreitert die Grenzen der Person auf die Umwelt der Dinge. Die Freiheit der Person verwirklicht sich in der Eineignung der Umwelt. Die Umwelt dringt in die Person des Menschen immer mehr ein. Dann wird die Umwelt, die Natur immer persönlicher. So soll eine neue Auffassung und Beziehung zur Umwelt entstehen, die den räuberischen Egoismus gegenüber die Natur, der sich auf den Materialismus des Kapitalismus und Sozialismus stützt, überwunden hat. Der Mensch, um sich weiter als Mensch zu entwickeln, bedarf der Selbstbesinnung seiner eigenen universalen Solidarität mit der ganzen Umwelt, mit der Natur.

Von dieser breiten Konzeption der sittlichen Solidarität bei Solov’ev, die wir im "Brief über die soziale Frage" finden, weicht die engere in "Rechtfertigung des Guten" ab, wo er die sittliche Solidarität als "die wahre Bruderschaft" von der natürlichen Solidarität als der organischen Einheit der Natur unterscheidet und behauptet, dass sich nämlich in der ersten "die positive Freiheit und die positive Gleichheit" verwirklicht. Die sittliche Solidarität bestimmt hier Solov’ev als "die bewusste und vorsätzliche Solidarität aller Glieder des All-Körpers im einheitlichen unbedingten Ziel der Existenz", die sich in der Verteilung "der Gaben und Dienste", die dieses Ziel sichtbar machen, verwirklicht. Die Entwicklung der Person betrachtet man da in den Grenzen der Gesellschaft. Aber früher, im "Brief über die soziale Frage" dehnt Vl. Solov’ev diese Scheidewand auch auf die Umwelt, die Natur aus. Dadurch wird eine logisch vollendete Anthropologie in der Solov’evschen Theorie der All-Einheit aufgebaut.

Die Tiefe und die Innerlichkeit der Beziehung zwischen dem Menschen und der Umwelt fordert Festigkeit und Beständigkeit, das heißt, "sie verlangt das Privateigentum". In "Rechtfertigung des Guten" beweist Solov’ev, dass für die Mehrheit der Menschheit die Beziehung des Menschen zur Natur "nur unter der Bedingung des erblichen Landeigentums moralisch werden kann". Die geerbte Erde ist die Heimerde. Der Mensch verhält sich zu ihr moralisch, ist mit dem geerbten Stückchen der Natur solidarisch, strebt danach, die Mutter Erde zu vergeistigen. Hier liegt nach Solov’ev die Rechtfertigung des vererbten Eigentums an die Erde. Daraus zieht Solov’ev im "Brief über die soziale Frage" den Schluss: man braucht die beiden Eigentumsformen, Gemein- und Privateigentum, um "das wahre menschliche Leben gleichermaßen unverzichtbar aufrechtzuerhalten". Es entspricht den zwei Zielen des Daseins: das Gemeinschaftseigentum dient, "um jedermann ein Mindestmaß an materiellen Mitteln zu sichern", und das Privateigentum dient, "um die Natur auf das Höchstmaß der Vervollkommnung zu heben". In diesem Zusammenhang schreibt Hans Gleixner in "Die ethische und religiöse Sozialismuskritik des Vladimir Solov’ev. Texte und Interpretationen", dass "der Mensch die Solidarität nicht nur seinesgleichen, dem Mitmenschen, gegenüber zu üben hat, sondern auch gegenüber der subhumanen Welt oder Natur, der Mutter ERDE". Dass Solov’ev im "Brief über die soziale Frage" (s. J.Huret «Enquête sur la question sociale en Europe» (1897), p.312) das Wort la Terre groß schreibt, zeigt die Relation Solov’evs zur Natur als dem wichtigen Bestandteil der Persönlichkeit des Menschen, der personifizierten Umwelt des Menschen.

Also hat der Mensch gegenüber die Mutter Erde Pflichten in Zusammenhang mit ihrem Eigenwert und Eigenrecht im all-einheitlichen Organismus des Seins. In seinen Werken nennt das Solov’ev die Rechte der Materie. Solov’ev sage Ja zu den Rechten der Materie, so Hans Gleixner. Solche religiöse ökologische Beziehung zur Natur trifft man bei Solov’ev nicht nur im "Brief über die soziale Frage". Er bestätigt "die Rechte der Materie" schon in "Kritik der abstrakten Prinzipien" (1877-1880) und rechnet den Sozialisten "die Erklärung der Rechte der Materie" als Verdienst an, und im dritten Teil der "Rechtfertigung des Guten" insbesondere dem Lehrgebäude der Saintsimonisten, "die als ihr Motto die Wiederherstellung der Rechte (die Rehabilitation) der Materie im Leben der Menschheit proklamierten". Doch werden von ihm dort die Rechte der Materie im ziemlich engen Sinne als das Recht der natürlichen und materiellen Neigungen verstanden. Er kritisiert den Buddhismus und den Platonismus wegen der Herabwürdigung des Naturprinzips. "…Das materielle Prinzip", schreibt Solov’ev, "hat dem christlichen Glauben nach seinen eigenen legitimen Anteil am Leben des Menschen und des Weltalls, als die notwendige reale Grundlage für die Verwirklichung der göttlichen Wahrheit, für die Inkarnation des göttlichen Geistes". Und weiter: "…In bezug auf die ganze materielle Welt erscheint nach dem Christentum nicht die Zerstörung der Welt als das Ziel und den Ausgang des weltumfassenden Prozesses, sondern ihre Wiedergeburt und ihre Wiederherstellung als die materielle Umwelt für das Reich Gottes – das Christentum verspricht nicht nur einen neuen Himmel, sondern auch eine neue Erde".

Die Rechte der Materie und der Natur legt Solov’ev ausführlich dar in der Arbeit "Rechtfertigung des Guten" (1894). Er stellt fest, dass man sie in direkt entgegengesetztem Sinn verstehen kann. Der erste Sinn der Rechte der Materie ist wahr und wichtig. Er lautet: "Die Sphäre der materiellen Beziehungen (vor allem der wirtschaftlichen) ist dazu bestimmt, ein Gegenstand der moralischen Aktion des Menschen zu werden, das Recht auf die Verwirklichung oder die Verkörperung des höchsten geistigen Prinzips in ihr zu haben, die Materie hat das Recht auf ihre Vergeistigung". Der zweite Sinn ist verbreiteter, aber ethisch schädlich: "Das materielle Leben der Menschheit ist nicht nur eine besondere Aktions- oder Anwendungssphäre für moralische Prinzipien, sondern es hat wie im Menschen so auch für ihn sein eigenes, vollkommen selbständiges vollberechtigtes materielles Prinzip – das des Instinktes oder der Begierde, dem der totale Spielraum werden sein soll und zwar so, dass damit die normale öffentliche Ordnung aus gegenseitiger Ergänzung und Vermischung der persönlichen Begierden und Interessen naturgemäß folgt" (der vorliegende Gesichtspunkt wurde besonders dargestellt von Fourier und Adam Smith). Der zweite Sinn der Rechte der Materie determiniert notwendigerweise nicht, dass "die normale Ordnung" "eine moralische Ordnung" ist. Hier geschieht die Entfremdung geistiger Interessen zugunsten der Eigenwertigkeit der materiellen Seite, was sowohl für die Ideologie des Kapitalismus als auch für die des Sozialismus kennzeichnend ist.

Weiter im gleichen Buch charakterisiert Vladimir Solov’ev drei Bedingungen, unter denen die sozialen Verhältnisse moralisch werden.

  1. Der Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeit soll sich nicht absondern und sich als ein eigenwertiges und selbständiges Gebiet bestätigen. Diese Forderung hat religiösen Charakter: nicht den Mammon an den Platz Gottes zu stellen und nicht den materiellen Reichtum als selbständiges Wohl und endgültiges Ziel der menschlichen Tätigkeit anzuerkennen.
  2. Der Mensch soll nicht nur Werkzeug der Wirtschaft sein; jeder soll materielle Mittel für eine würdige Existenz und Entwicklung besitzen. Das ist die Forderung für Menschenliebe gegenüber den Arbeitenden.
  3. Der Mensch als eine Wirtschaft schaffende Person hat Pflichten gegenüber der materiellen Natur, die zu kultivieren er berufen ist.

Diese dritte Bedingung ist die Bedingung des umweltschützenden Bewusstseins. Auf sie, wie Solov’ev mit Recht anmerkt, wandte zuvor niemand ernste Aufmerksamkeit. Auf diese Pflicht wird im biblischen Gebot der Arbeit verwiesen: die Erde zu bebauen (Gen. 2,15; 3,23). Die hebräischen Wörter "laobod ef goadama" bedeuten: "damit der Erde zu dienen". Unter dem "Dienen" (obod) versteht man sowohl die Verehrung innerhalb eines religiöses Systems als auch den Dienst zum Zweck der Bewahrung und der Entwicklung. Die Kultivierung der Natur bedeutet nach Solov’ev nicht Missbrauch, Erschöpfung und Zerstörung, sondern ihre Erhebung in eine größere Kraft und Fülle des Seins.

Also sind die Nächsten und die Natur kein Werkzeug für die wirtschaftliche Produktion. Die Natur ist kein Ziel der menschlichen Tätigkeit, "aber sie wird als ein besonderes selbständiges Glied von diesem Ziel impliziert". Die Natur hat das Recht auf menschliche (humane) Hilfe für ihre harmonisierende Umwandlung und ihren Aufstieg. Wenn Dinge keine Rechte haben, dann ist die Natur nicht nur das Ding, "sie ist das verdinglichte Wesen, das wir in seiner Vergeistigung fördern können und deshalb fördern sollen. Der Zweck der Arbeit gegenüber der Natur ist dann die Vervollkommnung der Natur, mit Solov’evs Wörtern: "Vergeistigung des Materiellen". Menschliche Tätigkeitsweisen stellen die Aufgabe der Kunst (griech. t e c n h ) zusammen.

Besonders wichtig ist die Beziehung des Menschen zur Natur und die daraus folgende Intention der Tätigkeit: "Ohne Liebe zur Natur um ihrer selbst willen kann man die moralische Organisation des materiellen Lebens nicht verwirklichen". Solov’ev nennt die drei möglichen Beziehungen des Menschen zur Natur:

  1. ihre Unterwerfung,
  2. Kampf mit ihr, ihre Eroberung und Ausnutzung als Werkzeug,
  3. Bekräftigung ihres idealen Zustandes - jenes, "was sie durch den Menschen werden soll".

Die erste Beziehung ist gegenüber den beiden ungerecht: der Mensch verliert die geistige Würde, und die Natur büßt die Möglichkeit der Vollkommenheit ein. Die zweite Beziehung ist rechtfertigt, aber nur wenn sie als eine Stufe für die dritte, die normale dient. Diese drei Beziehungen sind die drei geschichtlichen Entwicklungsstufen des Menschen und der Natur: von der kraftlosen Unterstellung durch die Negation zur Transfiguration, zur Auferstehung und zum Aufstieg.

All das führt Solov’ev zu dem Schluss, dass die Wiederherstellung der echten Rechte der Materie und der Natur heute eine notwendige Etappe der Menschheitsentwicklung ist, "weil nur die Anerkennung der Materie in ihrer wahrer Bedeutung befreit von tatsächlicher Sklaverei zugunsten der Materie", und vom wirtschaftlichen Materialismus, den Solov’ev in "Kritik der abstrakten Prinzipien" und in "Vorlesungen über Gottmenschheit" (1877-1881) scharf kritisierte.

Vladimir Solov’ev behauptet letztendlich: "Solange der Mensch die materielle Natur in sich selbst und außer seinem Selbst für etwas sein eigenes nicht anerkennt, solange er zu ihr nicht nähertritt und sie nicht liebgewinnt, ist er von ihr nicht frei, sie lastet auf ihm als etwas Fremdes, Unbekanntes und Erzwungenes".

Gott fordert den Menschen auf, dass der Mensch "sich Gott frei aneignet", und die materielle Natur fordert den Menschen, damit er sie "auffülle" und fördere. Er soll sich um sie kümmern und sie kultivieren, dadurch realisiert sich das Gebot Christi über die Nächstenliebe, wo unter dem Nächsten nicht nur der Mensch zu verstehen ist, sondern auch die ganze Schöpfung Gottes insgesamt, das heißt, es verwirklicht sich das christliche moralische Prinzip der Liebe zum Schöpfer durch Seine Schöpfung. Im zitierten "Brief über die soziale Frage" kritisiert Solov’ev scharf den Verlust des Gefühls für "die Rechte der Materie" sowohl bei Sozialisten so auch bei Kapitalisten, und ebenso den Verlust der durch den erweiterten moralischen kategorischen Imperativ verlangten Beziehung zwischen dem Menschen und der Mutter Erde.

In der Schrift "Das Judentum und die christliche Frage" (1884) klagt Solov’ev die jämmerliche ökologische Situation in Russland schon konkret an. Er schreibt: "Die Erschöpfung des Bodens bedeutet den Untergang Russlands, und inzwischen führt alles zu solcher Erschöpfung". Er kritisiert laut, dass die räuberische Konsumbeziehung zur Natur "mit jedem Jahr immer mehr gefährlich wird" (s. ebenso "Rechtfertigung des Guten", Bd. 8, S.395). Laut Solov’ev führt das globale Wachstum der Städte zur Entstehung einer besonderen Form der Zivilisation mit den künstlichen, antiökologischen Bedürfnissen, auf deren Befriedigung sich die Industrie orientiert. Diese Zivilisationsform ist nur auf den Konsum gerichtet, aber nicht auf die Rückgabe, was die Erschöpfung des Naturpotentials zur Folge hat.

Der Anfang dieses Entwicklungsprozesses einer besonderen Zivilisationsform wurde in der Neuen Zeit gelegt. Im Artikel "Über den Untergang der mittelalterlichen Weltanschauung" unterstreicht Solov’ev, dass "die ungläubigen Triebkräfte des neuzeitlichen Progresses… dieselbe materielle Natur gekränkt haben, in derer Namen viele von ihnen agierten. Gegen den pseudochristlichen Spiritualismus, der in dieser Natur das böse Prinzip gesehen hatte, stellten sie eine andere, genauso falsche Meinung auf, die in ihr einen toten Stoff, eine seelenlose Maschine sah,". Und die Erdnatur beginnt sich zu weigern, die Menschheit zu füttern und zu ertragen. Diese "gemeine Gefahr" muss laut Vladimir Solov’ev "die Gläubigen und die Ungläubigen verbinden. Sowohl für jene als auch für die anderen ist es höchste Zeit, ihre Solidarität mit der Mutter Erde anzuerkennen und zu verwirklichen, sie vor dem Absterben zu retten, und damit auch sich selbst vom Tod zu retten".

Bei der gefährlichen Zivilisationsentwicklung wird der in neuen Erfindungen scheinbare Gewinn "vom Schaden durchaus überwogen", der die Natur und also auch den Menschen belastet. Solov’ev benennt diese Form der Zivilisationsentwicklung als abwegig, da sie "das Mittel in das Ziel transformiert, aus dem Werkzeug ein Idol macht und für die Bequemlichkeit einiger das opfert, was für alle unerlässlich ist".

Solcher Situationsentwicklung entgegenzustehen ist nur möglich wenn man die Solidaritätsmaxime ins Leben bringt: die Solidarität des Menschen mit dem Menschen und die Solidarität des Menschen mit der Natur. Dies fordert von selbst eine neue Moral, einschließlich der kirchlichen Ethik, die beide Arten der Solidarität stärken würde.

Es ist interessant zu bemerken, dass Solov’ev die ökologische Frage direkt mit der feministischen Frage verbindet. "Die unmoralische Ausbeutung der Erde", schreibt er, "kann nicht aufhören, solange die unmoralische Ausnutzung der Frau fortdauert". Das sind zwei Seiten der Beziehung zu dem einen Haus: dem äußeren und dem inneren. Nötig ist die Erziehung in einer vernünftigen Askese des Konsums sowohl in bezug auf die Frau als auch auf die Natur. Ohne das ist die normale Entwicklung der menschlichen Tätigkeit unmöglich, konstatiert Solov’ev.

Am Ende des Artikels "Das Judentum und die christliche Frage" schildert Vladimir Solov’ev die Perspektive einer theokratischen, umweltfreundlichen Zivilisation. Sie wird sich von der jetzigen konsumierenden, der Befriedigung der durch den Urbanismus künstlich gestalteten, widernatürlichen Wünschen dienenden Zivilisation total unterscheiden. "In der Theokratie ist das Ziel der wirtschaftlichen Tätigkeit die Humanisierung des materiellen Lebens und der Natur, ihre Gestaltung durch die menschliche Vernunft, ihre Beseelung durch menschlichen Sinn. Auf solche Weise treten diese Natur, die Erde und das, was auf ihr ist – Tiere und Pflanzen – in das Ziel der menschlichen Tätigkeit ein, und sie werden nicht als nur menschliche Werkzeuge gebraucht: solcher Gebrauch ist ein Missbrauch", stellt Solov’ev fest. Die Theokratie wird auf der gegenseitigen Liebe des Menschen und der Natur gebaut. "Die Natur wird sich mit der Liebe dem Menschen untertan machen, und der Mensch wird sich mit der Liebe um die Natur kümmern".

Bei der Erforschung der Begriffe der Gleichheit und des Eigentums sucht Solov’ev das gemeinsame ethische Fundament, auf dem sich sowohl die mit der Nivellierung und der Uniformierung unvereinbare wesentliche Gleichheit aller Menschen als Persönlichkeiten stützen wird, als auch die differenzierte Ordnung des Eigentums. Beide Lager, das der Bourgeoisie und das der Sozialisten, sind mit dem Materialismus und dem Egoismus gegenüber den Menschen und der Natur infiziert. Ein solches Fundament findet Vladimir Solov’ev in der christlichen Auffassung der Umwelt als der Nächsten des Menschen. Hans Gleixner weist in "Die ethische und religiöse Sozialismuskritik des Vladimir Solov’ev. Texte und Interpretationen" darauf hin, dass Solov’ev der Akzentuierung der gegenwärtigen ökologischen Denkweise zuvorkommt.

Man kann hier eine vorgreifende Umweltethik entdecken, die schon am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde.

Wir lesen bei Solov’ev: "Ich bestehe auf dem grundsätzlichen Standpunkt: Es ist absolut notwendig, dass Eigentum nicht allein auf dem materiellen Interesse gegründet sei, sondern dass es auch eine pflichtmäßige Beziehung zwischen dem Menschen und der niederen Welt beinhalte. Es muss, statt der auf die Sachgüter ausgedehnte Egoismus zu sein, die universale, innerhalb bestimmter Grenzen konzentrierte Solidarität verwirklichen". Die moralische Solidarität im universellen Sinne impliziert gemäß Vladimir Solov’ev auch die vormenschliche (subhumane) Welt: die Mutter Erde. Die Ehrfurcht vor der Natur beendet logisch seine philosophische Konzeption der positiven All-Einheit. In diesem Sinn hat die Natur oder Mutter Erde nicht nur das instrumentalisierend Niveau oder die funktionale Bedeutung (Nützlichkeit), sondern auch einen relativen Eigenwert.

Der Mensch darf nicht "als bloßes Mittel und Werkzeug gebraucht werden". Vladimir Solov’ev postuliert: "Dasselbe Prinzip, in einem umfassenden Bereich angewandt, verbietet, dass die niederen Wesen der materiellen Natur selbst für uns bloße Mittel seien". Und weiter: "Es legt dem Menschen eine sittliche Verpflichtung ihnen gegenüber auf, …sie [die Naturwesen] emporzuheben, sie zu individualisieren, sie zu humanisieren…" Hans Gleixner schreibt dementsprechend: "Die ERDE ist in diesem ganzheitlichen Welt- und Menschenbild selber was, um nicht überspitzt zu sagen: gleichsam selber wer". Die Natur hat ihren Eigenwert und damit verpflichtet sie den Menschen einerseits zu ihrem Nutzen und Gebrauch aufgrund der Daseinsentwicklung, und andererseits zu ihrer Pflege und ihrer Vervollkommnung, worunter die Individualisierung, die Humanisierung und die Vergeistigung zu verstehen sind, aber keinesfalls die Vergöttlichung, wie es sich fehlerhaft bei G. Buschurov in seinem Artikel "K kritike social’nych vozzrenij Vl. Solov’eva" (in: "Utschenye zapiski", Bd. 284 (1967), S.218) befindet (s. zu diesem Fall: Hans Gleixner "Die ethische und religiöse Sozialismuskritik des Vladimir Solov’ev. Texte und Interpretationen", S.170).

Wir fassen die Solov’evsche Konzeption des Umweltbewusstseins in folgenden Punkten zusammen:

  1. Das natürlich Materielle und das Spirituelle sind von Grund auf unterschiedlich, aber sie existieren und entwickeln sich in organischer Einheit. Die Natur, die Schöpfung sind in den göttlichen Prozess der Transfiguration, der Auferstehung und des Aufstiegs eingebaut. Die Menschheit zusammen mit der geschöpften Natur "seufzt bis zum heutigen Tag und liegt in Geburtswehen" (Röm. 8,22-23).
  2. Die Unterwerfung der Natur und die Eroberung der Natur sind die zwei vergangenen Entwicklungsstufen der Beziehungen des Menschen mit der Natur. Die jetzige Einstellung auf die Konsumierung und die Ausnutzung der Natur, auf ihre Zerstörung im Namen der künstlich gestalteten Zwecke soll für das Überleben und die Entwicklung des Menschen überwunden sein. Man muss die echten Rechte der materiellen Natur wiederherstellen. Die Menschen sollen Ehrfurcht vor der Natur gewinnen, und in die moralische Solidarität soll auch die subhumane Welt eingeschlossen sein.
  3. Die Natur hat nicht nur das instrumentalisierende Niveau oder die funktionale Bedeutung (Nützlichkeit), sondern auch den Eigenwert und das Recht der Materie. Sie ist kein Mittel für die Erreichung des Zweckes, sondern ein besonderes selbständiges Glied des Ziels der menschlichen Existenz. Die materielle Natur ist ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Person.
  4. Die materielle Natur hat das Recht auf ihre Vergeistigung.
  5. Der Mensch hat die Pflicht gegen die Natur in Zusammenhang mit ihrem Eigenwert, er soll sich um sie kümmern und sie zu ihrem Wohle kultivieren. Die Natur bedarf des Menschen für ihre Vervollkommnung, Humanisierung und Vergeistigung.
  6. Die Liebe zum Schöpfer verwirklicht sich durch Seine Schöpfung (die Natur). Nicht nur der Mensch ist dem anderem Menschen der Nächste, sondern auch die Umwelt, die Natur.
  7. Die Katholizität der Kirche spiegelt die All-Einheit des Seins wider, in die auch die materielle Natur eingebaut ist. Das Wachstum des Menschen in der Spiritualität und der Kirchlichkeit setzt auch die Vergeistigung der Natur voraus. Als eines der Beispiele erscheint das Sakrament der Eucharistie, wenn das Brot und der Wein – die Früchte der Synergie des Menschen und der Natur – vom Heiligen Geist erfüllt werden und in die göttlichen eucharistischen Gaben verwandelt werden.
  8. Die Kirche soll die Menschen die Solidarität mit der Natur, die Ehrfurcht vor der Schöpfung lehren. Sie soll an der Ausformung einer neuen, ökologischen Lebensweise aktiv teilnehmen. Die Schöpfungsverantwortung ist die Maxime des christlichen Lebens.