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Vladimir Solov’ev




Evgenij Pazukin
Baden-Baden

Vladimir Solov’ev über die Einheit
des Alten und des Neuen Testaments

Vladimir Solov’ev ging beim Thema der Beziehungen zwischen Altem und Neuem Testament von der Konzeption der historiosophischen Theokratie aus. An erster Stelle standen für ihn die globalen Kategorien, die das Problem in den allgemeinen Rahmen der Göttlichen Vorsehung stellten. Der Philosoph stellte es in den weiten geistig-historischen Kontext und zeigte seine Verbindung mit anderen Aspekten der Welterschaffung.

Die theologische Begründung seiner Sicht von der Zukunft des Judentums nahm Solov’ev aus der Lehre des Apostels Paulus über die geheimnisvolle Rettung Israels (Röm 9). Daraus entnimmt er die Vorstellung von einem besonderen christlichen Weg für die gläubigen Juden: "Ganz Israel wird gerettet werden" (Röm 11,26). Daher unterstützte Solov’ev die jüdisch-christliche Gemeinschaft in Kišinev in ihrem Bemühen, nicht die vorgegebene Form zu übernehmen, sondern eine selbständige Kirche von Anfang (ab ovo) zu errichten. "Das Dogma" von der Rettung der Juden bewegte Solov’ev auch zum Bekenntnis einer "kommenden Vereinigung des Hauses Israel mit dem orthodoxen und katholischen Christentum auf der ihnen gemeinsamen Ebene der Theokratie" (Solov’ev. Aufsätze über das Judentum. Das Judentum und die christliche Frage. Jerusalem 1979 S. 10).

Seine Hauptthese formuliert Solov’ev auf der Basis der Predigt des hochwürdigsten Nikanor, des Bischofs von Cherson und Odessa, nach dessen Ansicht die Vereinigung des Judentums und des Christentums "nicht auf der Ebene des Indifferentismus oder beliebiger abstrakter Prinzipien, sondern auf der realen Ebene geistig-geistlicher und natürlicher Ordnung und positiver religiöser Interessen verwirklicht werden muss. Wir müssen eins sein mit den Juden, nicht indem wir dem Christentum absagen, nicht gegen das oder neben dem Christentum, sondern im Namen und in der Kraft des Christentums, und die Juden müssen eins sein mit uns nicht wider das Judentum, sondern im Namen und in der Kraft des wahren Judentums. Wir sind deswegen von den Juden getrennt, weil wir noch nicht im Vollsinn Christen sind und sie sind von uns getrennt, weil sie nicht im Vollsinn Juden sind. Denn die Fülle des Christentums umfasst in sich auch das Judentum, und die Fülle des Judentums ist das Christentum" (ebd. S. 11).

Mir scheint, dass eine solche Interpretation nicht ganz korrekt ist. Es kann sein, dass der Unterschied zwischen dem Judentum und dem Christentum einen rein subjektiven Charakter trägt, dass aber die Vereinigung zwischen ihnen das Resultat eines objektiven Prozesses der Selbstoffenbarung des Christentums und der Entwicklung des Judentums ist.

Darum führt die persönliche Teilnahme an diesem Prozess zur praktischen Realisierung der schon existierenden Einheit.

Das Alte Testament ist in seiner Beziehung zum Neuen Testament praktisch ohne Unterschied. P. Paul Florenskij behauptet nicht ohne Grund, dass das ganze Neue Testament aus dem Worten des AT abgeleitet werden kann. Nicht weniger genau formuliert das Vladimir Solov’ev: "Bei der Errichtung des neutestamentlichen Gotteshauses, musste man nicht ein neues Material finden; Christus und seine Apostel benützten dazu die Ziegel, die ihnen zur Hand waren, auch der Plan des Gotteshauses ist nicht in seinen Teilen neu, sondern in deren Zuordnung, in der Gesamtheit des religiösen Ideals" (Talmud und die neueste polemische Literatur darüber in Österreich und Deutschland. Gesammelte Werke Solov’evs t. 6. SPB S. 8, im folgenden genannt "Talmud") Was war denn damals das Neue im Neuen Testament?

Darüber lehrt Christus: "Ein neues Gebot gebe ich euch: liebt einander, wie ich euch geliebt habe" Neu ist hier nicht der Aufruf zur Liebe, der oft und oft auch im Alten Testament wiederholt wird, sondern mit der Liebe Christi zu lieben, welche nur ein Geschenk Gottes sein kann, ein Geschenk der Gnade, das den realen Inhalt (I. Iljin) des alttestamentlichen Gesetzes verklärt und "erfüllt". Im AT war alles gegeben, außer der Gemeinschaft der Gottmenschlichen Person mit uns "in allem, außer der Sünde", deren Eigenschaft zu erhalten wir berufen sind, durch volle Einheit, durch Verschmelzung mit Ihm. Das wahre Christentum ist nicht möglich ohne radikale Veränderung, innere Verklärung, Christus-Werdung des Menschen.

Wohl schreibt später Solov’ev darüber, dass die Einheit der christlichen und der jüdischen Religion durch die Herstellung der persönlichen Beziehungen des Menschen zu Gott bestimmt wird: "Unsere Religion beginnt mit persönlichen Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen im Alten Testament des Abraham und des Mose und sie wird bestärkt durch ganz enge persönliche Vereinigung Gottes und des Menschen im neuen Gesetz Jesu Christi, in dem beide Naturen ungetrennt anwesend sind, und unvermischt. Diese zwei Gesetze sind nicht zwei verschiedene Religionen, sondern nur zwei Stufen ein und derselben gottmenschlichen Religion, oder in der Sprache der deutschen Schule, zwei Momente ein und desselben gottmenschlichen Prozesses" (ebd. S. 17). Aber in dieser Beurteilung herrschte, meiner Meinung nach, die Philosophie über die Theologie. Solov’ev löscht die qualitative Grenze zwischen dem Bemühen zur persönlichen Gottesbeziehung im Judentum und ihrer Verwirklichung im Christentum, indem er das Gewünschte (oder hypothetisch Gewünschte) den Juden als das Wirkliche zuschreibt. Ein solcher Umstand ignoriert die Lehre des Apostels Paulus über die Überwindung des Gesetzes durch die Gnade. Nach dieser Lehre, war das den Juden gegebene Gesetz eine direkte Folge des Sündenfalls und hatte keine erlösende, sondern nur eine vorbereitende und erzieherische Bedeutung.

Der Übergang vom Alten zum Neuen vollzieht sich nach dem Modell der Verklärung: das alte wird nicht vernichtet, sondern erneuert, erhält eine unvergängliche Natur. Als Christus nicht nur seine Apostel auf dem Tabor zu Zeugen seiner Verklärung machte, sondern auch die alttestamentlichen Propheten, zeigte er sowohl dem neuen wie auch dem alten Israel die "engen Pforten, die ins Reich Gottes führen". Und sein Gespräch mit Mose und Elia war natürlich auch eine Predigt dieses Weges, aber auch die Erklärung dessen, wie der Nichtjude sich mit Gott verbinden kann. Mehr noch, gerade im Augenblick und im Akt der Verklärung geschah die reale Vereinigung des Alten und des Neuen Testamentes.

Solov’ev zählt vier Fakten in der Geschichte Israels auf, die seine Zukunft bestimmen:

  1. Dass Christus seiner Natur nach aus dem Judentum stammt.
  2. Die feindliche Beziehung der Israeliten zum Christentum.
  3. Die Ansiedlung Israels in slawischen Ländern: in Russland und Polen – "Früher lebte das Judentum aus dem Glauben und aus der Hoffnung auf das verheißene Gottmenschentum; das jetzige Judentum lebt aus dem Protest und aus der Feindschaft zum nicht anerkannten Messias, dem Gottmenschen, dem Anführer des Gottmenschentums auf der Erde" (ebd. S. 11-12). Darum sind die orthodoxen russischen und die katholischen polnischen Völker zur Mission berufen. Aber ein erster Schritt muss sein, dass sie die getrennten Teile der christlichen Kirche vereinen. Die Hauptsache der Berufung der Juden zur Vereinigung besteht darin, dass gerade aus ihrer Mitte Christus gekommen ist "dem Fleische nach", dass sie "ein gottgebärendes Volk" sind (Judentum und christliche Frage S. 12-13).

Warum aber war gerade dieses Volk zur Hervorbringung des Gottmenschen auserwählt? Solov’ev nennt drei Hauptgründe einer solchen Erwählung:

  1. Die tiefe Religiosität der Juden
  2. Das außergewöhnlich entwickelte Gefühl des nationalen Selbstbewusstseins und der Solidarität
  3. Der äußerste Materialismus (im weiteren Sinne des Wortes). "Das Judentum sah immer in Gott – schreibt Solov’ev – nicht die unendliche Leere eines allgemeinen Substrates, sondern die grenzenlose Fülle des Seins, das in sich das Leben hat und das Leben dem anderen gibt...<..> Damit verbunden darf die Religion nicht die Vernichtung des Menschen in einer universalen Gottheit sein, sondern das persönliche Zusammenwirken zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen" (ebd. S. 16). Gerade der "geistig-geistliche Materialismus" der Juden gab die Voraussetzung für die Inkarnation Christi in der jüdischen Umgebung: " Die Juden, die ihrer Religion treu ergeben sind, die voll die Geisterfülltheit der Göttlichkeit annehmen und die Göttlichkeit des menschlichen Geistes, konnten und wollten nicht diese höchsten Prinzipien von ihren materiellen Ausdrücken trennen, von ihrer körperlichen Form und Hülle, von ihrer äußersten und endgültigen Verwirklichung.<..> Die Idee der heiligen Körperlichkeit und die Bemühungen zur Verwirklichung dieser Idee nehmen im Leben Israels einen unvergleichlich wichtigen Platz ein, wichtiger als in einem beliebigen anderen Volk...Man kann sagen, dass die ganze religiöse Geschichte der Juden darauf ausgerichtet war, Israel auf Gott vorzubereiten, nicht nur die heiligen Seelen, sondern auch auf den Heiligen (Christus). (ebd. S. 20-21).

Aber pardoxerweise haben die Juden, die für die Ankunft des Christus vorbereitet waren, ihn selbst abgelehnt. Solov’ev sieht die Ursache dafür darin, dass im tagtäglichen Leben des Judentums besondere Eigenschaften des jüdischen Charakters oft "das Übergewicht bekamen über die religiösen Elemente und sich diese unterwarfen". Gleichzeitig waren bei den Juden viele Voraussetzungen für die Annahme Christi, als des erwarteten Messias. Aber ihre messianischen Erwartungen gründeten sich vor allem auf die prophetischen Voraussagen, in denen das Reich des Messias geschildert wurde als "die Bekräftigung des Gebotes Gottes in der Herzen der Menschen, als die Verbreitung der wahren Erkenntnis von Gott, und endlich als die Ausgießung des Heiligen Geistes auf die ganze Schöpfung" (ebd. S. 24).

Christus selbst hat durch seine Ankunft und seine Predigt den geistlich-innerlichen Charakter der jüdischen Religiosität geheiligt: "Als Christus sagte: wer mich sieht, der sieht auch den Vater – schreibt Solov’ev – hat er die Gottheit nicht weit weggerückt, sondern sie dem einfühlsamen Menschen nahe gebracht. Damit verbunden, hat Christus sowohl mit seinen Worten als mit seinem Beispiel die praktischen Grundlagen des religiösen Lebens geheiligt – das Gebet, die Barmherzigkeit und das Fasten (ebd. S. 27). Nach der Überzeugung des Philosophen, ist das Reich Gottes, das von Christus verkündigt wurde "nicht nur ein inneres – im Geist, sondern auch ein äußeres – in der Kraft: es ist die wirklich echte Theokratie".

Und weiter bekräftigt Solov’ev: "von der heidnischen Weisheit unterscheidet sich das Christentum vom eigentlichen Ziel her, vom Judentum unterscheidet es sich nur durch verschiedene Beziehungen zu diesem Ziel (Aber gerade darin, in diesen Beziehungen, liegt die Sache! E.P.). Das endgültige Ziel ist für die Christen und für die Juden dasselbe – die universale Theokratie, die Verwirklichung des göttlichen Gesetzes in der menschlichen Welt, die Inkarnation des Himmlischen im Irdischen. Aber im Christentum offenbarte sich darüber hinaus ein Weg zu dieser Krönung, und diese Weg ist das Kreuz. Und diesen Weg des Kreuzes konnte das damalige Judentum – nicht verstehen...Indem sie sich äußerlich dem Bund entsprechend organisierten, um das Reich Gottes zu erwerben, wollten sie diesen Kreuzweg nicht verstehen und annehmen, durch den das Reich Gottes nicht von außen erhältlich ist, sondern es sich von Anfang an von Innen her angeeignet wird, um erst dann in äußerlicher Gestalt zu erscheinen" (ebd. S. 28).

Um die Welt für Gott zu gewinnen, müßten die Juden nach dem Vorbild der Christen sich zuerst davon fern halten, und "die unsinnige Vereinigung des Geistes mit der Materie unterlassen, um zwischen ihnen eine wahre und heilige Verbindung herzustellen" (ebd. S. 29). Aber das Wichtigste, das die Juden nicht verstehen konnten, ist die Notwenigkeit der Vereinigung mit Gott einer jeden einzelnen menschlichen Person: "Der Gottmensch – schreibt Solov’ev – d. h. die Vereinigung der Gottheit mit der menschlichen Natur in einer individuellen Person, ist der Anfang, die unumgängliche Grundlage und die Vermittlung; auch das Ziel und die Vollendung ist die Gottmenschlichkeit (besser die vergöttlichte Menschheit) – mittels des Gottmenschen – des ganzen Menschengeschlechts, und dadurch der ganzen Schöpfung. Die Juden, die in jeder Sache ein endgültig praktisches Resultat suchten, dachten nur an eine kollektive Vereinigung und sie verstanden nicht die Unumgänglichkeit eines individuellen Anfangs und einer Vermittlung zur Erlangung dieses gemeinsamen Zieles" (ebd. S. 30).

Den Juden aber kann man die Wahrheit dieses Weges aufzuzeigen, indem man ihn in der Praxis erfühlt: Je vollkommener die christliche Welt durch sich die Idee einer geistlichen universalen Theokratie zum Ausdruck bringt, je stärker der Einfluss der christlichen Prinzipien auf das persönliche Leben der christlichen Völker ist, auf die politischen Beziehungen in der christlichen Menschheit – um so auffälliger würde dann der jüdische Beitrag zum Christentum sein, um so möglicher und näher wäre dann die Rückkehr der Juden. So ist die jüdische Frage eine christliche Frage" (ebd. S. 31).

Nach Solov’ev erscheint die Göttliche Ausrichtung im historischen Plan sowohl im Alten, wie im Neuen Testament, in den drei "theokratischen Organen, Priestertum, Königtum und Prophetentum" – Der Priester gibt die Richtung, der König richtet, der Prophet berichtigt. In der Reihenfolge der Göttlichen Ordnung kommt dem Priester die Autorität zu, begründet auf der Überlieferung, der König herrscht mit seiner Macht, die auf dem Gesetz gründet, der Prophet genießt die Freiheit der persönlichen Gründe" (ebd. S. 33).

Aber wie steht es dann mit den Prophezeiungen des Jeremia? – "Seht es kommen Tage, spricht der Herr, da ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen neuen Bund schließe...Und das ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel schließe...spricht der Herr: ich lege mein Gesetz in ihr Inneres und schreibe es in ihre Herzen, und ich werde ihnen Gott sein und sie werden mein Volk sein. Und dann wird nicht mehr einer den anderen belehren, der Bruder den Bruder ‚erkennt Gott’, denn alle werden mich kennen, vom Kleinsten bis zum Größten, spricht der Herr, weil ich vergebe ihre Gesetzlosigkeit und gedenke nicht mehr ihrer Sünden" (Jer 31, 31-34). In dieser Verheißung wird sowohl dem "alten" wie auch dem "neuen" Israel die "Erkenntnis Gottes selbst" vorausgesagt (hl. Gregor Palamas), man braucht keinerlei Vermittlung mehr, das heißt die "priesterliche Ausrichtung" und "die königliche Herrschaft" müssen sich verändern und einfließen in die eine Form der prophetischen Gotteserfahrung. Die alten Formen, die dem Untergang nahe sind (Apostel Paulus), verschwinden nicht, sondern sie gehen in die vollkommen gewordene Struktur des vergöttlichten Menschen ein.

Das Prophetentum, das dann die priesterliche und das königliche Vollmacht in sich aufnimmt, schafft so die Dreieinheit der theokratischen Persönlichkeit.

Hier liegt auch die Grenze, die das Judentum vom Christentum unterscheidet. Doch Solov’ev legt Wert auf die alten Formen der jüdischen Theokratie. "Wenn das Königtum und das Priestertum eine vorherrschende Rolle spielen in der göttlichen Ordnung" (ebd. S. 40), so hat doch das Prophetenamt des Jeremia , von dem wir vorher sprachen und was durch die Worte Christi bestärkt wurde "Ihr müsst von oben her wiedergeboren werden, die er dem "Lehrer in Israel", Nikodemus, sagte, keine geringere Bedeutung.

Solov’ev leugnet nicht die Unumgänglichkeit einer geistig-geistlichen Wiedergeburt in Christus, aber -nach meiner Meinung, in Widerspruch zum Evangelium und zur praktischen Tradition - bezieht er die Verwirklichung dieser Verheißung auf die unbestimmte eschatologische Perspektive: "Wahrlich alle Gläubigen werden Propheten Gottes sein am Ende der Tage, wenn die triumphierende Kirche erscheint, wenn alle dann auch Könige und Priester sein werden.

Doch dahin ist es noch weit, und das Ende an den Anfang zu setzen ist ein Unternehmen, das keinen Erfolg verspricht" (ebd. S. 40). Aber wenn die Gläubigen sich mit Christus verbinden, nehmen sie dann nicht schon jetzt an seiner Ewigkeit teil, werden sie dann nicht schon Teilhaber des Reiches der kommenden Zeit? – "Das Reich Gottes in eurem Inneren" (Lk 17,21).

Noch weniger überzeugend ist in der Konzeption Solov’ev s seine Sicht von der zukünftigen jüdischen und christlichen Theokratie, die er mit der Zerstreuung eines bedeutenden Teils des jüdischen Volkes auf das Territorium des orthodoxen Russlands und des katholischen Polens sieht. Darin ist nach seiner Meinung eine reale Voraussetzung für die göttliche Verheißung gegeben: "Ganz Israel wird gerettet werden".

Nach Solov’ev ist das durch die Säkularisierung geschwächte Europa nicht mehr in der Lage, die Prinzipien einer wahren christlichen Theokratie zu verwirklichen. Diese Mission liegt bei den "slawischen Völkern, die noch frische Kräfte haben", Russland und Polen. Und nicht ohne den Willen der Vorsehung "hat die Geschichte unter diese zwei religiösen Nationen, von denen jedes seine besondere theokratische Idee hat, ein drittes religiöses Volk gestellt, das auch seine eigenen theokratischen Vorstellungen hat – das jüdische Volk" (ebd. S. 44). Dieses Volk kann ein organischer Teil der theokratischen Menschheit sein, der vergöttlichten Menschheit, der Gottmenschlichkeit, nur nach der Vereinigung der großen christlichen Kirchen des Ostens und des Westens, "denn es sieht und anerkennt das Reich des Messias in Macht und Wirklichkeit" (ebd. S. 55). Leider waren wird noch keine Zeugen dieser Prophezeiung.

Natürlich vermindern die oben aufgezeigten "existentialen" Argumente keineswegs die "essentialen" Werte der solov’evschen Analyse. Mit besonderer Tiefe interpretierte er die jüdische Überlieferung, die im Talmud eingeschlossen ist, die besonders im Werk Solov’evs "Talmud und die neueste Polemik in der Literatur" dargelegt ist.

Darin widerlegt Solov’ev kompromisslos die Argumentation der jüdischen Überlieferung, die von den Juden "Absage an den Talmud, der sie mit Fanatismus bestärkt, und Rückkehr zur reinen Religion des mosaischen Gesetzes" fordert. In Antwort dazu bringt Solov’ev eine ähnliche Beurteilung von Gegner der orthodoxen Überlieferung: "Dann müssten auch sie nun entschieden ihrer kirchlichen Gesetze und Gewohnheiten entsagen, der alten scholastischen Überlieferung, die die "Lehre der Väter der Kirche " genannt wird und schließlich auch solchen Denkmälern des Aberglaubens und der Phantasie, wie es die "Leben der Heiligen" sind, dann müssten auch sie also zur reinen Lehre des Evangeliums zurückkehren (Talmud S. 3). Um die oben genannte Forderung zu unterstreichen, zitiert Solov’ev das Buch "Kormtschija kniga", in dem auch Gedanken dargelegt werden, die "die Feindschaft zwischen den Orthodoxen und den anderen Konfessionen schüren".

Weiters zeigt der Philosoph die Verbundenheit von Schrift und Überlieferung auf, die schon im Innersten des Judaismus ist und ins Neue Testament übergegangen ist. Hier einige der dort angeführten talmudischen Agad, denen wir in abgewandelter Form im Neuen Testament begegnen.

Wer Brot im Korb hat und sich um den folgenden Tag sorgt, der gehört zu den Kleingläubigen Der Mensch soll vor Gott nur in wenigen Worten sprechen.

Wer das Unrecht verzeiht, das ihm angetan wurde, dem vergibt Gott seine Sünden.

Als der Tempel noch stand, hat der Opferaltar die Sünden der Menschen getilgt. Nun aber, da kein Altar mehr ist, ist das der Tisch, der den Armen bereitet ist, er ersetzt den Altar und er tilgt die Sünden.

Rabbi Eleazar lehrte: bekehre dich am Tag des Todes. Da fragten seine Schüler: " Weiß denn der Mensch, wann er sterben wird?". – "Das heißt – antwortete der Rabbi – dass er sich heute schon bekehren muss, denn er kann schon morgen sterben; so wird er sein ganzes Leben in Buße verbringen, wie gesagt wurde: "deine Kleider seien immer weiß, und das Öl vertrockne nie auf deinem Haupt". Rabbi Johannan fügte ein anderes Gleichnis dazu: Ein König lud seine Diener zum Mahl ein, aber er sagte vorher nicht, wann das sein wird. Die Verständigen unter ihnen zogen ihre besten Kleider an und warteten in der Nähe des Schlosses, da sie annahmen, dass dort alles bereitet sei. Die Törichten aber gingen ihren Beschäftigungen nach, weil sie dachten, für ein königliches Mahl braucht es viele Vorbereitungen. Plötzlich rief der König die Eingeladenen. Die Klugen standen vor ihm in reinen Festtagskleidern, die Törichten kamen in schmutzigen Kleidern, da sagte der König zu ihnen: "Diejenigen, die in reinen Kleidern gekommen sind, mögen sich setzen und essen; jene aber die sich in schmutzigen Kleidern zeigten, sollen ruhig stehen und zuschauen" (Talmud S. 12-14). Es ist interessant, dass in der talmudischen Agad der König eine humanere Entscheidung fällt als im Gleichnis des Evangeliums.

Was aber die feindlichen Ausfälle gegen das Christentum betrifft, die sich im Talmud finden, so stützen sich oft die Antisemiten darauf, aber die drücken, nach Meinung von Solov’ev persönliche Meinungen aus, und dies sind nicht "talmudische Gesetze". Dazu führt er ein Beispiel aus der Geschichte des Krieges gegen die "Polnische Republik" an, wo die Kosaken einen Juden, einen polnischen Priester und einen Hund aufhängten, mit folgender Unterschrift: "Jude, ...und Hund – ein Glaube". Aber wer entscheidet – schreib Solov’ev – ob diese Aussage aus den Gesetzen des russischen Imperiums oder aus den kanonischen Bestimmungen der orthodoxen Kirche kommt? (Talmud S. 23).

Aufgrund der Analyse der talmudischen Texte kommt Solov’ev zu dem Schluss, dass "zwischen dem Gesetz des Talmuds und der neutestamentlichen Moral, die auf dem Glauben und dem Altruismus gegründet ist, keine Widersprüche im Prinzip sind. Der prinzipielle Streit zwischen dem Christentum und dem Judentum ist nicht auf der moralischen, sondern auf der religiös –metaphysischen Ebene, in der Frage über die gottmenschliche Bedeutung und das Erlösungsopfer Christi". (Talmud s. 16). Die Lösung dieses Streites aber ist nach Meinung Solov’evs zugunsten des Christentums nur möglich durch die Realisierung der von den Christen deklarierten geistig-geistlichen und moralischen Prinzipien. Aber die Christen ziehen nicht nur durch ein gerechtes Leben die Juden nicht zu ihrem Glauben an, sondern im Gegenteil, sie skandalisieren sie durch die schreienden Widersprüche zwischen den christlichen Idealen und ihrem tatsächlich heidnischen Charakter.

Solov’ev beendet den Aufsatz mit dem Hinweis auf die einzige Möglichkeit, die Juden zum Christentum näher zu bringen: " von uns selbst, und nicht von den Juden hängt die gewollte Lösung der jüdischen Frage ab. Wir können die Juden nicht zwingen, von ihren talmudischen Gesetzen abzugehen, aber in das Judentum selbst die Botschaft des Evangeliums hinein zu tragen das steht immer in unserer Kraft. Eines von beiden: entweder sind dann die Juden uns nicht mehr feindlich, dann existiert die jüdische Frage überhaupt nicht, oder sie sind unsere Feinde, dann müssen wir uns ihnen gegenüber im Geiste der Liebe und des Friedens verhalten – das ist die einzige Möglichkeit der Lösung der jüdischen Frage" (Talmud S. 32).

Ich meine, dass alle rechte und auch alle fehlerhafte Interpretation Solov’evs in der Frage der Beziehung des Alten und des Neuen Testaments vor allem aus der gewaltigen zu bewältigenden Aufgabe kommt, die er sich vorgenommen hatte.

Es gab damals um diese Frage in der Zeit Solov’evs eine harte Polemik. Die Begriffe: "gottmenschliche Religion", "Judeochristliche Moral", mit denen er operiert, sind zu allgemein und zu spekulativ, um damit nicht nur die Konturen, sondern auch das Spezifikum beider großen geistig-geistlichen Wege der christlichen und der jüdischen Menschheit zu beschreiben. Wenn ich auch die solov’evsche These von der gemeinsamen Quelle dieser beiden Wege übernehme, dann insistiere ich doch darin, dass sie radikal an der Mündung auseinander gehen. Die gegenseitige Beziehung von Judentum und Christentum kann man wohl am besten in der Formulierung von Meister Ekkehard ausdrücken: "Meine Mündung ist höher als Meine Quelle".

Im Neuen Testament, im Vergleich zum Alten, ist ein "Qualitätssprung" enthalten beim Übergang vom "Gesetz" zum "Gesetz des Glaubens", was in überragender Deutlichkeit in den Briefen des Apostels Paulus dargestellt wird. Bei all dem dargestellten Gemeinsamen des Alten und Neuen Testaments, kommt doch dazu die vorher nicht vorhandene "Fülle Gottes im Fleisch". Gerade darin liegt der Unterschied zum Alten Testament und das ist das ontologisch Neue.

Das in der solov’evschen Analyse außerordentlich Kostbare ist das von ihm dargelegte Instrumentarium gegen den Antisemitismus, wie auch gegen aller anderen Formen von Unduldsamkeit, was auch ohne weiteres übernommen werden kann für unsere multiethnische und multireligiöse mit Konflikten beladene Epoche. Man braucht nur auf die sich in Russland und in Deutschland ausbreitende Xenophobie hinzuweisen, auf die wachsenden internationalen und interkonfessionellen Konflikte. Wenn man darüber nachdenkt, kann man dazu vieles lernen beim Autor des Werkes "Rechtfertigung des Guten". Man muss ihm auch die gebührende Achtung erweisen für sein "jüdisch-christliches" und ich möchte hinzufügen und genauer sagen, sein christliches, moralisches Pathos.

Solov’ev zeigt sich als ein in der modernen Zeit seltenes Beispiel eines Philosophen im tiefsten Sinn dieses Wortes Philosoph in großen Buchstaben, in dem die ethische Intention organisch zusammenfällt mit der Tendenz des Denkens.

In dieser Fülle und Ganzheit der philosophischen Sicht liegt die hauptsächliche Lehre, die wir aus dem Leben und dem Werk des russischen Denkers ziehen können.