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Vladimir Solov’ev




Igor Andrianov
Minsk

Theologische Überlegungen von Vladimir Solov'ev
über die Einheit der Kirche

Wenn ich heute über den großen russischen Denker Vladimir Solov'ev spreche, dann möchte ich mich mit seinem Beitrag zum theologischen Dialog zwischen Orthodoxie und Katholizismus näher befassen, der am Ende des XIX. Jahrhunderts begann. Seine Rolle dabei wurde – aus verschiedenen Gründen - nicht genügend gewürdigt.

Auf dem letzten Symposium in Novgorod (Mai 1998) sprach ich über eine kleine Arbeit von Solov'ev, die die Frage der dogmatischen Entwicklung in der Kirche zum Thema hatte. Damals wurde schon gesagt, dass das von Solov'ev aufgegriffenen Thema viele nicht gleichgültig ließ, eine Diskussion hervorrief, die sich auch nach seinem Tod fortsetzte.

Außer in dieser kleinen Schrift beschäftigte sich Solov'ev in vielen seiner Schriften mit Fragen der Glaubenslehre, die Orthodoxie und Katholizismus trennen. Diese Fragen aufgreifend kam er – willentlich oder unwillentlich (gewollt oder ungewollt)– in Diskussion mit der offiziellen orthodoxen Theologie seiner Zeit. Leider war diese Diskussion nicht frei: die grundlegenden Werke Solov'ev, die viele theologische Fragen behandelten, wurden wegen der Zensur nicht in Russland gedruckt, sondern nur im Ausland publiziert. Das waren die damaligen Bedingungen und die Situation, die er kritisierte. Für ihn war es eine Erniedrigung der Orthodoxie, wenn der Staat sie mit polizeilichen Maßnahmen verteidigt.

Trotz erscheinen diese theologischen Überlegungen von Vl. Solov'ev heute nicht weniger aktuell als damals. Darum erlaube ich mir, darauf zu insistieren, da ja heute die Spaltung der Kirche in der säkularen, aber Gott suchenden Welt noch skandalöser und unsinniger ist.

In seiner Arbeit "Russland und die Universale Kirche" (ed. Paris 1889 auf Französisch; in Russland erst 1911) gibt Solov'ev der Analyse von Mt 16,13-19 ein besonderes Gewicht. In diesem Abschnitt ist die Rede vom Bekenntnis des Apostels Petrus und von der Übergabe der "Schlüsselgewalt" an ihn. Nach Solov'ev bekräftigt das Evangelium, dass dem Apostel Petrus die Attribute zukommen: "zuerst die Berufung, Fundament (Fels) des kirchlichen Gebäudes zu sein durch das unfehlbare Bekenntnis der Wahrheit; zweitens der Besitz der Schlüsselgewalt; drittens die Gewalt zu binden und zu lösen" (S.224)

Die Gewalt zu binden und zu lösen ging dann von den Aposteln auf deren Nachfolger, die Bischöfe und die Priester, über. Doch die zwei ersten Rechte sind nach Meinung von Solov'ev an den Apostel Petrus gebunden. Darum konzentriert er sich weiterhin auf die besondere Rolle des Apostels Petrus in der Schar der Apostel. "Der Gottmensch hat nicht vergängliche Einrichtungen gegründet, er schaute bei seinen Berufenen durch ihre sterbliche Individualität hindurch. Das, was Er der Gemeinschaft der Apostel sagte, bezog sich auf die ganze Priesterschaft, auf die lehrende Kirche im Ganzen. Die hervorragenden Worte, die nur an Petrus gerichtet waren, übertrugen in der einzigen Person dieses Apostels die mächtige und ungeteilte Vollmacht des Universalen Kirche für die ganze Zeit ihres Bestehens und für den ganzen Verlauf ihrer Entwicklung in den folgenden Jahrhunderten. Und wenn Christus die formelle Aufrichtung seiner Kirche und die Garantie ihrer Beständigkeit nicht an eine allgemeine, allen Aposteln gegebene Vollmacht binden wollte (denn er sagte nicht der Gemeinschaft der Apostel: auf euch gründe ich meine Kirche), dann beweist das klar, dass der Herr das Bischofs- und Priestertum (das die Gesamtheit der Apostel darstellt) für sich nicht genügend hielt für die Herausbildung der unzerstörbaren Fundamente der Universalen Kirche in seinem unvermeidlichen Kampf mit den Mächten der Unterwelt." (S.225)

Wenn die Orthodoxen die Unentbehrlichkeit eines hierarchischen Aufbaus der Kirche aufzeigen, dann insistieren sie auf der Tatsache der Erwählung der 12 Apostel und des Auftrags "zu gehen und alle Völker zu lehren und sie zu taufen auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes." (Mt 28,19-20).

Nach Meinung Solov'evs ist auch die besondere Erwählung des Apostels Petrus in dieser Linie zu sehen, sie beweist "die Notwendigkeit eines ungeteilten Zentrums des hierarchischen Aufbaus der Kirche" (S.226). Diese Sicht Solov'evs ist eng mit seiner Ekklesiologie (Sicht von der Kirche) verbunden. Als er diese entwickelte, kam er unweigerlich in Widerspruch mit der Slavophilen und im besonderen mit Chomjakov, der die Kirche als die vollkommene Vereinigung der Menschheit mit Gott verstand, das absolute Reich der Liebe und der Wahrheit. Bei so einer Ekklesiologie kann man unmöglich die Existenz einer äußeren Autorität und Gewalt zulassen, d.h. auch kein ungeteiltes Zentrum, von dem Solov'ev sprach. Darauf weist auch Prot. S. Bulgakov in seinen bedeutsamen Dialogen "An der Mauer von Cherson" hin. Aber so wird die Kirche nur als geistliche Einheit verstanden, nur als Ideal, aber nicht als empirische, irdische Realität. Eine solche Kirche ist nicht in der Lage, ihre Berufung in der Welt zu verwirklichen. Die Ablehnung eines solchen "chomiakovischen" Verständnisses der Kirche war für Solov'ev charakteristisch und erschien in gewissem Sinn als das bewegende Element und der Ausgangspunkt für seine theologischen Überlegungen (Prot. A. Men. etc., S. 409).

Aber von einer solchen Kirche sprach ihr göttlicher Gründer nicht. "Die vollkommene Kirche, die triumphierende Kirche, die Kirche der Glorie, - zeigt Solov'ev auf – setzt voraus, dass die Pforten der Hölle und die Macht des Bösen endgültig zerstört sind, aber Christus hat seine sichtbare Kirche gerade dazu erbaut, um mit den Mächten der Unterwelt zu kämpfen und zu diesem Ziel gab Er ihr ein menschliches und irdisches Zentrum der Einheit... "(S. 226) So schient es, dass Solov'ev voll die Vorstellung des Katechismus von der "sichtbaren" und der "unsichtbaren" Kirche teilt. Wie bekannt, haben im XX. Jahrhundert Prot. Nikolaj Afanasiev und andere bekannte orthodoxe Theologen diese Einteilung der Kirche in eine "sichtbare" und "unsichtbare", eine "triumphierende" und eine "pilgernde" einer ernsten Kritik unterworfen, indem sie diese Einteilungen als eine "verhängnisvolle Versuchung des theologischen Denkens" sahen. "Entsprechend der Lehre von der Katholizität der Kirche" – schrieb Prot. Nikolaj Afanasiev – "erscheint diese Einheit als absolute: sie ist nicht eine sichtbare und unsichtbare Kirche, eine irdische und eine himmlische, sondern ist die eine göttliche Kirche Gottes in Christus, welche in der Fülle ihrer Einheit anwesend ist in jeder Ortskirche bei ihrer eucharistischen Versammlung. Jedoch teilt Solov'ev die Kirche nicht in eine sichtbare und eine unsichtbare, sonders er sieht sie als einen einzigen Organismus, in dem zwei Seiten – eine sichtbare und eine unsichtbare "zusammenstimmen und zusammengehen" (S.226)

Damit dieser Zusammenklang des Göttlichen und des Menschlichen möglich sei, des sichtbaren und des unsichtbaren Prinzips, hat Gott seine Kirche in besonderer Gestalt gegründet. Um in der Kirche das ideale Prinzip der Menschheit und der allgemeinen Übereinstimmung darzustellen, hat Jesus Christus – als Prototyp einer gemeinschaftlichen Regierung – das anfängliche Kollegium oder Konzil der 12 Apostel, untereinander verschieden, aber in brüderlicher Liebe vereint, festgelegt: damit eine solche ideale Einheit überall und zu allen Zeiten verwirklicht werden kann; damit die Gemeinschaft der Kirchenoberhäupter überall und immer über alle Zwistigkeiten siegen kann und um die Vielheit der persönlichen Meinungen zu Einheit und Allgemeinverbindlichkeit in Einklang zu bringen; damit die nichtigen Streitereien zu Ende gebracht werden können, und die Einheit der Kirche real erscheinen kann, damit nicht diese Einheit durch die Zufälligkeiten menschlicher Bedingtheiten verdunkelt wird, um Seine Kirche nicht auf schwankendem Sand zu bauen, da hat der Göttliche Gründer einen unzerstörbaren Felsen gegründet, hat eine feststehende Leiter der kirchlichen Hierarchie und das Ideal der Einmütigkeit erstellt, indem er sie mit der realen lebendigen Vollmacht verband", schreibt Solov'ev (S.226/7)

Des weiteren richtet Solov'ev seine besondere Aufmerksamkeit auf die Exegese der Worte Jesu Christi vom Felsen, auf dem seine Kirche gegründet wird. Wie bekannt, waren in der russischen Theologie verschiedene Auffassungen über diesen Evangelientext. Einige Theologen verneinten direkt, dass dieser Fels, auf den die Kirche gegründet ist, Petrus ist. Andere sprachen - gestützt auf einige patristische Meinungen – davon, dass man unter dem Felsen, auf dem die Kirche gegründet ist, den Erlöser selbst verstehen muss oder das Bekenntnis des Petrus, aber nicht den Apostel selbst. Andere wiederum, die eine Einteilung der Kirche in eine sichtbare und unsichtbare annahmen, behaupteten, dass die sichtbare Kirche eine zweitrangige Bedeutung habe und darum befinde sich das Schwerkaftzentrum in der unsichtbaren Kirche. Dieses Zentrum ist Christus selbst.

Solov'ev aber sagt zu diesem Thema folgendes: die Wahrheit, dass der Fels der Kirche Christus ist, hat niemals jemand bezweifelt. Aber Christus nennt auch Petrus den Fels der Kirche, in dem er Simon einen neuen Namen gab. "Christus ist Fels der Kirche, und Simon Bar-Jonas ist Fels der Kirche. Wenn das ein Widerspruch ist, dann soll man bei ihm nicht stehen bleiben. Denn wir sehen, wie das auch Simon-Petrus ist, der allein von Christus eine solche ausschließliche Eigenschaft erhielt, trotzdem erklärt er in einem seiner Briefe, dass alle Gläubigen lebendige Steine des gottmenschlichen Baues (1 Petr 2,4-5) sind. Der einzige Fels der Kirche ist Jesus; aber wenn wir Jesus glauben, dem überragenden Felsen der Kirche, dann erscheint als solcher auch das Haupt der Apostel; aber wenn man an den letzteren glaubt, den Felsen der Kirche, dann erscheint als solcher auch jeder Gläubige" – schreibt Solov'ev (S.227) So ist der augenscheinliche Widerspruch nur ein scheinbarer und Solov'ev demonstriert eine außergewöhnliche Logik und löst diesen Widerspruch in seiner Synthese: "Jesus Christus, der einzige Fels des Reiches Gottes in seiner religiösen und mystischen Ordnung, stellt den Fürsten der Apostel und seine unvergängliche Vollmacht als Eckstein der Kirche auf in der sozialen Ordnung, für die christliche Gemeinschaft, und jedes Glied dieser Gemeinschaft, geeint mit Christus und in seine Ordnung eingefügt, wird ein individuelles, konstitutives Element, ein lebendiger Stein dieser Kirche, die in Christus ihre mystische und (zur gegebenen Zeit) unsichtbare Grundlage hat, aber in der monarchischen Vollmacht Petri ihr gemeinschaftliches und sichtbares Fundament (ebd.). So ist keine Gegensätzlichkeit zwischen diesen Felsen, und sie kann auch nicht sein. Darüber hinaus, wenn man bedenkt, dass der Terminus "Fels" (Fundament) ein Terminus der Beziehung ist und weil Christus nur Fels der Kirche sein kann wegen seiner besonderen Verbindung mit der Menschheit, die die Kirche ausmacht. Gerade diese Verbindung in der sozialen Ordnung wird zuerst durch die besonders zentrale Beziehung verwirklicht, die Christus mit dem hl. Petrus hat, da augenscheinlich ist, dass diese beiden Felsen – der Messias und sein oberster Apostel – nicht nur sich gegenseitig ausschließen, sondern dass sie nur zwei ungetrennte Termini ein und derselben Beziehung sind. Was den Felsen oder die Felsen der dritten Ordnung betrifft, die Menge der Gläubigen – wenn dann auch gesagt wird, dass jeder Gläubige ein lebendiger Fels der Kirche sein kann, so wird damit noch nicht behauptet, dass er ein solcher für sich allein sein kann oder wenn er sich von Christus oder von der von Ihm eingerichteten fundamentalen Gewalt trennt " (S.228)

So ist das Fundament der Kirche, der Fels der Kirche, Christus, hypostatisch in sich die göttliche und die menschliche Natur vereinend, aber auch jeder gläubige Christ, der sich mit Christus in den Sakramenten verbindet, ist Fels der Kirche. Aber, wie Solov'ev bemerkt, diese Vereinigungen (der zwei Naturen in der Person Christi und der individuellen Vereinigung der Gläubigen mit Christus) sind noch nicht genügend, um von der Einheit der Kirche im vollen Sinn dieses Wortes zu sprechen – nämlich der Kirche als eine soziale und historische Institution.

"Die Fleischwerdung des Wortes" – zeigt Solov'ev auf – ist ein geheimnisvolles Faktum, aber kein soziales Prinzip; das individuelle religiöse Leben kann auch genügend die christliche Gemeinschaft grundlegen: man kann heilig leben in der Einsamkeit der Wüste. Und wenn trotzdem in der Kirche neben dem Mystischen und den Individuellen auch das Soziale etwas gilt – dann muss dieses soziale Leben irgendeine besondere Form haben, gegründet auf dem Prinzip der Einheit, die ihr charakteristisch ist.

Als spezifische Grundlage (Prinzip, "Anfang") einer solchen sozialen Einheit, erscheint – nach den Worten Solov'evs – nicht direkt "weder Jesus Christus, noch die Masse der Gläubigen, sondern die monarchische Vollmacht Petri, vermittels derer Jesus Christus sich mit der Menschheit vereinen wollte, als einem sozialen und politischen Wesen" (ebd.). darum erscheint der Apostel als Fels der Kirche "der die Grundfesten der historischen christlichen Gemeinschaft vereint" (S.229). Dazu ist der Apostel Petrus als Fels der Kirche (im sozialen, historischen Sinn) undenkbar ohne die Einheit mit dem Felsen der Kirche – Christus – (im mystischen Sinn) und ohne die Einheit mit dem Felsen der Kirche – d. h. jedem Gläubigen (im individuellen Sinn). Dieser Gedanke Solov'evs wird von vielen orthodoxen Theologen geteilt, wird bestätigt durch die heiligen (Kirchen-)Väter und er kommt auch zum Ausdruck im Lehrbuch für vergleichende Theologie, das vom Komitee für Unterricht bei der Heiligen Synode zur Benutzung in den Seminaren der Russischen Kirche empfohlen wird. Einige orthodoxe Theologen, die sich dabei auf patristische Exegese stützen, die sich mit dem Evangelientext Mt 16, 12-26 befassen, bekräftigen, dass der Fels, von dem Christus spricht, nicht persönlich Petrus ist, sondern sein Glaubensbekenntnis über Christus. Hören wir, was darüber Solov'ev sagt. Vom objektiven Blickpunkt aus ist unser Herr Jesus Christus, der Fels der Kirche, die fleischgewordenen Wahrheit. Damit die Kirche, als menschliche Gemeinschaft gesehen, auf der Wahrheit gegründet sei, ist unvermeidlich, dass sie auf besondere Weise vereint sei mit diesem wahren Glauben. Jeder Mensch für sich genommen wird mit diesem wahren Glauben verbunden, "der uns verbindet mit dem innersten Wesen der Dinge und den unserer Seele alles offenbart, was äußerlich unsichtbar ist" (S.232). Darum stellt - vom subjektiven Standpunkt aus – gerade der Glaube die Grundlage für den "Fels" der Kirche dar". Aber welcher Glaube? Wessen Glaube?" fragt Solov'ev und fährt fort: das einfache Faktum eines subjektiven Glaubens der einen oder anderen Person ist nicht genügend. Der stärkste und aufrichtigste Glaube kann uns nicht nur in Verbindung bringen mit dem unsichtbaren Wesen und der höchsten Gnade, sondern auch mit dem unsichtbaren Wesen des Bösen und der Lüge, was genügend oft durch die Geschichte der Religionen bewiesen ist... (ebd.)

Die objektive Wahrheit des Glaubens, die nicht durch die Geschichte begrenzt ist, aber universalen Charakter hat, ist die universale Grundlage, und darum muss das wahre Subjekt des Glaubens seinem Subjekt ähnlich (gleichgestaltig) sein" d.h. "sie muss universal sein"(ebd.). Solov'ev fährt fort: "Der wahre Glaube kann nicht der (Erb-) Besitz eines individuellen Menschen in seiner Isoliertheit, sondern nur der ganzen Menschheit in ihrer Einheit sein; das Individuum kann an ihr (=der Menschheit) Teilhabe haben, aber nur als lebendiges Glied des universalen Leibes. Da aber die reale und lebendige Einheit des Menschengeschlechts nicht direkt in der physischen Ordnung gegeben ist, so muss sie in der moralischen Ordnung gegründet sein (ebd.).

Die Grenzen, die uns trennen, individualisieren, müssen durch die Liebe überwunden werden, damit der Mensch Gott ähnlich wird, der die Liebe ist. Diese Liebe, die die reale und lebendige Einheit der Universalen Kirche bildet, kann nicht einfach ein rein subjektives Gefühl sein, sondern sie muss irgendwie ihren objektiven Ausdruck finden. Die natürliche Liebe bringt sich objektiv zum Ausdruck in der Familie, als Gemeinschaft der Menschen, die uns am nächsten sind, aber auch in der Nation, dem Staat, der Stadt – im weiteren Sinne in der Gemeinschaft, die in der gleichen Sprache verbunden ist, in der Geschichte, der Kultur usw. Die Liebe, die die religiöse Einheit der Menschen gründen soll, die Universale Kirche, geht notwendigerweise über die Grenzen der Nationalität, des Staates, der Familie hinaus und hat als ihr Objekt die Gesamtheit aller menschlichen Wesen. Aber das Individuum empfindet das Gefühl der Liebe zum Menschengeschlecht nicht in der Fülle des analogen Gefühls, das er erfährt in Beziehung zur Familie, zur Heimat, zur Nation. Sie ist zu abstrakt. Damit sie konkret wird, braucht sie "eine freie und bewusste Absage vom eigenen Willen, vom persönlichen, familiären und nationalen Egoismus", sie braucht "eine Unterordnung des persönlichen Willens unter den universalen Willen" (S.233)

"Aber damit der universale Wille nicht eine Fiktion sei" – fährt Solov'ev fort –"ist unumgänglich, dass sie sich immer realisiert in einem festgelegten Wesen. Da der Wille aller nicht die reale Einheit darstellt, denn nicht alle befinden sich in der unmittelbaren Übereinstimmung des einen mit dem anderen, darum... ist unvermeidlich (notwendig) ein einziger Wille, welcher in der Lage ist, alle übrigen zu vereinen" (ebd.). Aber wenn ein Wille ist, dann muss es auch Wollende geben.

Da wir derzeit nicht vereint sind "in unmittelbarer Einheit, sind wir vor die Notwendigkeit gestellt, diese Vereinigung mit allen in der Person eines Einzigen zu suchen, damit wir die Möglichkeit haben, Teilhaber an dem wahren, universalen Glauben zu sein" – bemerkt Solov'ev (S.233-234)

Diese einzige Person ist im Denken Solov'ev der römische Erstpriester (Ersthierarch). Er stellt die Einheit aller dar, genau so wie der Apostel Petrus "die Universalität und die Einheit" (S. Augustinus) persönlich darstellt oder "die Einheit der Kirche und die Einheit der Kathedra bezeichnet (S. Cyprian von Karthago). Wenn auch alle in einem, so nimmt doch jeder teil am Glauben aller, und dieses Band schafft die Einheit der universalen Kirche und macht sie "zur wirklichen Gemeinschaft, bedeutend weiter, bedeutend komplexer (komplizierter) als Nation oder Staat, aber nicht weniger real (S.234).

Und seine Überlegungen abschließend, ruft Solov'ev seine bedeutsamen Worte aus: "Die Liebe zur Kirche erscheint als ständige und wirkliche Übereinstimmung mit ihrem Willen und ihrem lebendigen Denken, die klar vorgestellt werden in den Aktivitäten des obersten kirchlichen Hauptes. Dieser Liebe, die in ihrem Anfang nur ein Akt reiner Moral ist, die Erfüllung einer prinzipiellen Pflicht (der Gehorsam gegenüber einem kategorischen Imperativ in kantianischer Terminologie), kann und muss zu einer Quelle von Gefühlen und Zuneigungen werden, die nicht weniger mächtig sind als kirchlich Liebe oder Patriotismus. Diejenigen, die die Kirche auf der Liebe aufbauen wollen, sehen gleichzeitig die universale, kirchliche Einheit nur in der Überlieferung (Vergangenheit), kristallisiert und schon 11 Jahrhunderte gleichsam aller Mittel für ihre wirkliche Selbstbehauptung und ihre reale Manifestation beraubt. Sie müssten in Erwägung ziehen, dass es nicht möglich ist, mit einer lebendigen und realen Liebe eine archäologische Erinnerung zu lieben, ein fernes Faktum, wie die sieben Universalen Konzilien, die den Massen absolut unbekannt sind und nur den Gelehrten bekannt sind. Die Liebe zur Kirche hat nur einen Sinn bei denen, die fortfahren, einen lebendigen Vertreter der Kirche anzuerkennen, einen gemeinsamen Vater aller Gläubigen, da er der Gegenstand (Subjekt) der Liebe in dem Sinne sein kann, wie der Vater in seiner Familie oder das Staatsoberhaupt in einem monarchischen Land" (ebd.)

Abschließend möchte ich einige Gedanken Solov'evs darlegen, wie er sich eine mögliche Verwirklichung dieser kirchlichen Einheit vorstellt. Wenn er vom Unterschied zwischen der östlichen und der westlichen Christenheit spricht, stellt Solov'ev sehr deutlich heraus, dass "die christliche Kirche im historischen Sinn die Versöhnung darstellt von zwei Gestaltungsprinzipien: des östlichen, das in der passiven Hingabe an die Gottheit besteht und des westlichen, das die Eigentätigkeit des Menschen betont. Für die Kirche ist beides gleichzeitig nötig, das eine wie das andere.... Das Ideal der Kirche besteht nicht in der Verschmelzung dieser zwei verschiedenen Wirklichkeiten, sondern in ihrer Übereinstimmung und Koordinierung. (Über die christliche Einheit, S. 40)

Und dieses Ideal ist uns - nach Solov'ev – in Jesus Christus gegeben "als der wahre Leib des Gottmenschen Christus, muss die Kirche, wie auch Er eine nicht vernichtende, nicht getrennte Verbindung des Göttlichen und des Menschlichen sein... In Christus war die Gottheit nicht passiver Gegenstand der Betrachtung und Verehrung für sein menschliches Bewusstsein, sondern innerlich vereint mit Seinem menschlichen Willen. Durch ihn (den menschlichen Willen) wirkte Er, Seine materielle Natur hatte umwandelnde Kraft. Ähnlich auch in der Kirche: ihr göttliches Wesen oder ihre Heiligkeit darf nicht nur verehrt und angebetet werden, sondern vereint mit den praktischen Kräften der Menschheit, muss sie in alle weltlichen Elemente eindringen, um sie zu heiligen und sie mit Geist zu erfüllen (S.42).

So erscheint für Vl. Solov'ev gerade die Christologie als Ausgangspunkt in den Betrachtungen über die Einheit der Kirche. Die Trennung der Kirche selbst ist für ihn zeitweilig, historisch, das innerste Wesen des Christentums nicht betreffend, und, das ist das Allerwichtigste: die Beziehung beider Kirchen zu Christus und zu seiner sakramentalen Gnade nicht verändernd. Insoweit als das reale mystische Band der Kirche mit Christus ein und dasselbe ist "sind sie ein und dasselbe auch in Christus" und "sie bilden den einen ungeteilten Leib Christi".

Solov'ev behauptet fest: Die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche ist wesentlich sowohl im Osten wie auch im Westen und sie wird ewig bleiben, ungeachtet der zeitweiligen Feindschaft und der Trennung der zwei Hälften der christlichen Welt" (S79).

Indem er unterstreicht, dass sie Universale Kirche eine ist, und dass sich in ihr die Orthodoxen und die Katholiken befinden, erinnert Solov'ev an die Protestanten, als solche, die sich außerhalb der Kirche befinden. Und wenn die Orthodoxe und die Katholische Kirche sich (nun) vereinigen können und müssen, so können die Protestanten sich nur mit der Kirche wiedervereinigen (S.85). Im Nachdenken darüber, wie man praktische Wege der Einheit finden könnte, schreibt Solov'ev: "Vor allem muss man alle hauptsächlichen Streitfragen zwischen den beiden Kirchen überprüfen, nicht in polemischen und "entlarvenden" Absichten, wie man dies bisher getan hat, sondern mit dem aufrichtigen Wunsch, die andere Seite vollständig zu verstehen, ihr alle Gerechtigkeit zukommen zu lassen und zu (ergründen), worin man mit ihr übereinstimmen kann. Dieser Wunsch, diese friedliche Stimmung... ist einzig notwendig, dann wird alles andere dazugegeben" (S.84). Wenn Solov'ev von der Revision der Streitfragen zwischen den Kirchen auf dem Gebiet der Glaubenslehre spricht, zeigt er einen sehr bedeutungsvollen Gedanken auf über die Notwendigkeit, die Lehre der Kirche als solche, und die Lehre der theologischen Schulen oder einzelner Theologen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist äußerst notwendig im theologischen Dialog, sie hilft, die Dogmen von den theologischen Meinungen zu unterscheiden. Das wurde 1886 gesagt, 12 Jahre nach Erscheinen der bedeutsamen Thesen von B.V. Bolotov, der die Unterscheidung von Dogma, Theologoumenon und persönlicher, theologischer Meinung vorschlug, im Zusammenhang mit der seriösen Untersuchung der Lehre des "Filioque" (S.437). Es ist sehr interessant, dass Solov'ev, wenn er über die Einheit der Kirche spricht, eindeutig die "Unio" - als Möglichkeit zur Erlangung der Einheit - negativ beurteilt. Vl. Solov'ev schreibt darüber, "die Kirche kann nicht mit Geld vereinigt werden" und die Errichtung der Einheit "muss direkt aus direktem, religiösem Antrieb kommen und von diesem geführt werden." (S.76). Wenn man die Einheit als Mittel zum Ziel einer weltlichen Politik sieht, dann bringt das der Einheit selbst Nachteile. Deswegen steht Solov'ev gleichermaßen negativ zur Unio wie auch zu deren gewaltsamen Auflösungen im Jahr 1839.

Was Solov'ev über die notwendige Unterscheidung zwischen der Vollmacht des Papstes als Nachfolger des Apostels Petrus und seiner administrativen Vollmacht als Patriarch des Westens sagt, ist unserer Ansicht nach auch sehr wichtig. Die Russische Kirche gehörte niemals zum westlichen Patriarchat und darum wird in Zukunft in der einen Kirche die "einförmige Zentralisierung der kirchlichen Gewalt, welche an den Grenzen der Lateinischen Kirche halt machen würde, für uns nicht im Gewissen verbindlich sein im vollen Sinne (Brief an Bischof Stroßmayer S.438). Das heißt, die Kirche des Ostens, die sich mit der des Westens vereint, behält nicht nur ihren Ritus, sondern auch die Autonomie ihrer kanonischen Verwaltung. Es ist interessant, dass Solov'ev, wenn er von der Vollmacht des Papstes, als des Nachfolgers des Apostels Petrus spricht, er vom Primat des Papstes spricht, nicht wie von einem Primat der Herrschaft, sondern von einem Primat des Dienstes. Er unterstreicht, dass in der Einen Kirche die zentrale Autorität des Papsttums eine vereinbarte (konditionale, veränderbare) und dienende Bedeutung hat" (S.60). Das stimmt - meiner Meinung nach - vollkommen überein mit dem katholischen Verständnis des Primates des Papstes, besonders in der heutigen Zeit.

Am Schluss meines Vortrags möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die Ideen Solov'evs über die Einheit der Kirche nicht das gebührende Echo in seiner Gesellschaft, in seiner Zeit fanden. Aber sie besitzen eine große Bedeutung – sie werden mehr und mehr aktuell im Laufe der Zeit. Das Interesse an ihnen wird nicht geringer, sondern wächst. Davon zeugt auch die Wiederherausgabe seiner Werke und auch Tagungen wie diese, die seinem Gedächtnis gewidmet sind. Aber das Wichtigste, die Geschichte selbst treibt uns an, die verlorene Einheit der Kirche zu suchen. Ich möchte dazu ein kleines Beispiel anführen, wie heute die Gedanken von Solov'ev aktuell sind und wie sie uns helfen, unser Verständnis vieler Probleme zu vertiefen. Heute ist das Problem der Einheit der slawischen Völker sehr aktuell. Es werden verschiedene Festivals ("Slawischer Bazar") organisiert, Kinofestivals ("Der goldene Hecht") und Konferenzen zu diesem Thema. Der Beitrag eines Hierarchen an einer Konferenz, die der Kyrillo-Methodianischen Thematik gewidmet war, bleibt mir in Erinnerung. In diesem Beitrag sprach der Hierarch davon, dass diejenigen, die heute gegen die Einheit der slawischen Völker sprechen, damit auch gegen die Einheit der Kirche angehen. Diese These ist absolut wahr, aber das Erbe Solov'ev ermöglicht es, ihr eine viel weitere Dimension zu geben. Wenn Solov'ev über die slawische Frage spricht, dann unterstreicht er, dass es keine einheitliche slawische Welt gibt. Es gibt westliche katholisch Slawen, es gibt östliche orthodoxe Slawen, die immer orthodox bleiben. Darum "werden weder die einen dem Katholizismus absagen, noch wir der Orthodoxie. Das zeigt klar, dass die geistlich-geistige Einheit der östlichen und der westlichen Slawen ... nur möglich ist unter der Bedingung, dass Orthodoxie und Katholizismus sich gegenseitig nicht ausschließen werden, wenn es möglich sein wird, dass man orthodox bleibt und zugleich damit auch katholisch sein kann, und dass man katholisch bleibt und zugleich orthodox sein kann. "(S.203)