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Vladimir Solov’ev




Valentin Nikitin
Moskau

Das große Vermächtnis von Vladimir Solov’ev
auf dem Weg zur christlichen Einheit

"Vor allem muss man anerkennen, dass so wie wir, die östlichen, so auch die westlichen, bei allen Unstimmigkeiten zwischen unseren kirchlichen Gemeinschaften, fortwährend unveränderlich Glieder der einen ungeteilten Kirche Christi sind...jede von den beiden Kirchen ist schon die universale Kirche, aber nicht im Getrenntsein der einen von der anderen – sondern in der Einheit miteinander"

(Vladimir Solov’ev)

"Solov’ev – anima candida, pia ac vere sancta" ("Solov’ev – eine reine Seele, fromm und wahrhaft heilig")

(Joseph-Georg Stroßmayer, Bischof von Bosnien und Apostolischer Vikar von Serbien)

Das XX. Jahrhundert mit der schrecklichen Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland und des internationalen, aber nicht weniger gottlosen "Sozialismus" in Russland, bezeugt klar, dass der Mensch, der ohne Gott leben will, Formen der staatlichen und sozial-gesellschaftlichen Struktur schafft, die gegen den Menschen gerichtet sind. Von den russischen Denkern haben Dostoevskij und Vladimir Solov’ev prophetisch davor gewarnt.

Die unvergängliche Bedeutung von Solov’ev liegt in seinem kostbaren Beitrag zur geistig-geistlichen Erneuerung Russlands: er war wirklich ein bedeutender Katechet, ein Verfasser einer großen Zahl von Schriften, die auch heute noch das Weltchristentum bereichern und viele in den Schoß der Kirche führen. In seinem Werk "Die geistlichen Grundlagen des Lebens (1882-1884) (1) nennt Solov’ev dafür drei Grundlagen – den Glauben, die Liebe und das Fasten (die geistliche Askese). Viele Zeitgenossen Solov’evs kehrten, dank der Bekanntschaft mit den Werken von Solov’ev, zu Gott zurück.

Aber sein besonderes Wirken bestand darin, dass er in Russland die Tradition der Einen Ungeteilten Kirche neu erweckte – echtes Laienapostolat. Auch wenn er ein treuer Sohn der Russischen Orthodoxen Kirche blieb, erkannte er die universale Autorität des Nachfolgers des heiligen Apostels Petrus an und zugleich zeigte er einen gangbaren Weg zur christlichen Einheit auf – zur Einheit in Verschiedenheit.

Lange war der Name von Vladimir Solov’ev als ein genialer religiöser Denker, ein Streiter für die christliche Einheit im atheistischen Russland verschwiegen worden. In der UdSSR war er hauptsächlich nur als ideeller Anführer des Symbolismus bekannt. Endlich wird nun, Gott sei Dank, sowohl sein philosophisches als auch sein theologisches Erbe langsam als "unveräußerliches Erbe der russischen Kultur und des russischen Selbstverständnisses" anerkannt (19, S. 17). Anläßlich des hundertsten Todestages von Vladimir Solov’ev hat das Institut der Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften begonnen, eine "Vollständige Sammlung seiner Werke und Briefe in zwölf Bänden" vorzubereiten (bis jetzt ist nur Band I erschienen). Aber es müssen noch viele Jahre vergehen, bis das geistig-geistliche Erbe von Solov’ev wirklich in unsere kirchlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Kreise eindringt.

In Westeuropa ist Vl. Solov’ev seit langem als überzeugter und eifriger Kämpfer für die christliche Einheit bekannt, als weit vorausschauender Vorläufer der ökumenischen Bewegung.

"In Solov’ev finden wir starke Bemühungen zur Versöhnung, zur Überwindung der vielfältigen Formen der Spaltung, die unsere heutige Welt bedrängen", sagt Prof. Jonathan Satton (67).

Und wohl nicht ohne den Einfluss von Solov’ev hat Papst Leo XIII. (1878 – 1903) am Ende des XIX. Jahrhunderts die katholische Welt zur jährlich wiederkehrenden Gebetsnovene um die christliche Einheit aufgerufen (in der Zeit von Christi Himmelfahrt bis Pfingsten) und das Apostolische Schreiben "praeclara gratulationis" vom 20. Juli 1894 über die Vereinigung der Kirche verfasst. In seiner im Jahre 1896 veröffentlichen Enzyklika "Satis cognitum" kommt er auch auf die Fragen der Einheit mit den orthodoxen Christen zu sprechen.

In der Enzyklika von Papst Johannes Paul II "Glaube und Verstand" (Fides et Ratio, 1988) wird Solov’ev in der Reihe jener bedeutenden Vertreter der östlichen Kultur genannt, deren Mühen und eifrige Untersuchungen "von den fruchtbaren Beziehungen der Philosophie zum Wort Gottes zeugen" und "deren großes philosophisch-theologisches Erbe auf eine "Weiterführung und Untersuchung zum Wohl der Kirche und der Menschheit wartet" (60, S.103)

Am 12. März 2000 hat Papst Johannes Paul II während seines historischen Schuldbekenntnisses am Versöhnungssonntag des Jubiläumsjahres unterstrichen, dass der Vatikan die "gegenseitige Schuld" des Westens und des Ostens an der Spaltung der christlichen Konfessionen anerkennt und er bat von seiner Seite aus um Vergebung all dessen, was geschehen war.

Diese Worte des Pontifex Maximus verpflichten in vieler Hinsicht die orthodoxen Patriarchen...

In der großen Mehrzahl der Werke von Solov’ev ist das Bemühen um die christliche Einheit wie ein Leitmotiv, das den Denker beseelt und geistlich antreibt. Viele Jahre hat er sich unermüdlich und zielstrebig darum bemüht, Wege zur Annäherung aufzufinden und aufzuzeigen, um dann aber auch zur vollen Einheit der Orthodoxen mit der Katholischen Kirche zu gelangen. Er erkannte klar, dass der Erfolg des christlichen Zeugnisses angesichts der säkularisierten und gottfernen Welt, der Erfolg der christlichen Predigt an die Ungläubigen, der Erfolg der christlichen Mission in der sozialen und kulturellen Sphäre in ganz besonderer und unmittelbarer Weise von der Einheit des Christentums abhängt. Darum fanden die Ideen von Vladimir Solov‘ev – des Propheten und Vorläufers der ökumenischen Bewegung – viele Anhänger, haben seine Mühen im Dienst an der christlichen Einheit eine ganze Reihe bedeutender russischer und europäischer Philosophen und Theologen beeinflusst – sowohl Laien als auch Geistliche.

Und hier muss man unterstreichen: Solov’ev war ein Eiferer für einen echten Ökumenismus, ein Vorkämpfer der Einheit des Ostens und des Westens im Geist und in der Wahrheit, aber nicht einer formellen "Einheit" nach dem Gefallen der staatlichen Macht, wie das in der Zeit der nicht lange vergangenen babylonischen Knechtschaft der Russischen Kirche der Fall war. Ein solcher vom totalitären Staat inspirierter Quasi-Ökumenismus trägt die Gefahr der Anerkennung der Macht des Antichristen in sich. Gegen einen solchen "Ökumenismus" warnt uns Solov’ev entschieden in seinen "Drei Gesprächen" (1899-1900). Leider verstehen das die heutigen Gegner der christlichen Einheit, die die Kirche umgebenden Radikal-"Fundamentalisten" nicht. Ich setzte dieses Wort in Anführungszeichen. Jeder Hass, jede Gewalt, die trennt – ist ein schlechtes antigöttliches Prinzip. Solov’ev rief zur Vereinigung und zur Einheit auf, indem er die Gnade der göttlichen Liebe betont. Darin besteht der wahre Fundamentalismus.

Der große Theologe, Visionär und Mystiker lehrte, dass die Natur eine einzige Seele hat. Seine persönliche Erfahrung mit der Weltseele führte ihn zum Gedanken von der Beseeltheit der ganzen Schöpfung, durchdrungen und gehalten durch die Sophia, die Weisheit Gottes. Und auch wenn die sündige Welt abgefallen ist von ihrem ursprünglichen harmonischen Zustand, weil sie ihre gnadengegebene Freiheit missbrauchte, so besteht die weitere Geschichte der Welt in der Rückkehr zur Göttlichen Harmonie. Alles, was auf diesem Weg hindert, ist eine Inkarnation des Bösen, der Disharmonie, der Entropie. Das göttliche Prinzip vereint, das satanische trennt. Solche Intuitionen und Überzeugungen Solov’evs sind außerordentlich aktuell in unserer tragischen und kritischen, sich selbst gefährdenden Zeit, wo die Welt an der Grenze der Polarisierung von Gut und Böse schwankt, wo die Noosphäre selbst apokalyptisch zerrissen wird (um mit einem Terminus von Teilhard de Chardin zu sprechen).

Wenn man vom echten Ökumenismus Vladimir Solov’evs spricht, darf man nicht vergessen, dass unser Philosoph als Voraussetzung für eine Vereinigung der Östlichen und der Westlichen Kirche deren schöpferische Erneuerung sah, die aber nichts gemeinsam hat mit einer Nachahmung des sogenannten "Erneuerertums", mit einer rein äußerlichen Modernisierung, mit Unterwerfung unter den Zeitgeist. "Die Östliche Kirche muss – nach Meinung von Solov’ev – sich vom Zäsaropapismus lossagen, von glaubensmäßiger und nationaler Verschlossenheit, sie muss sich als Teil der Universalen Kirche fühlen, um zusammen mit den anderen Christen das Reich Gottes aufzubauen. Solov‘ev wünschte sich auch eine Erneuerung der Westlichen Kirche" (55, S. IX).

Auch uns ist absolut klar, dass eine tiefe Wahrheit in den Bemühungen unseres Denkers, der Einheit zu dienen liegt. Denn Christus selbst hat aufgerufen: "Dass alle eins seien, wie Du, Vater, in Mir und ich in Dir, so sollen auch sie eins sein – damit die Welt glaube, dass Du Mich gesandt hast" (Joh 17,21). Dieses Gebet Jesu im Garten Gethsemani vor seinem Tod ist das letzte Vermächtnis des Heilands. Es war für Solov’ev ein heiliges Gebot – und ein solches heiliges Gebot muss es allen bleiben, die in der Nachfolge Christi stehen wollen.

Wir wissen, dass dieses Gebot übertreten wurde – im Westen und im Osten. Aber wir dürfen es nicht vergessen, nicht übergehen! Das wäre eine schwere Sünde; es ist absolut unumgänglich, einen Weg zu finden, um die christliche Spaltung zu beseitigen. Davon war Solov’ev absolut überzeugt – seine Überzeugung geht auf uns über. Denn auch heute bleibt für uns die Aufgabe der Überwindung der kulturellen, historischen und geistig-geistlichen Gegensätze des Ostens und des Westens sehr wichtig und lebensnotwendig. Die Lösung dieses Problems sah Solov’ev in der Vereinigung zweier einseitiger Ausrichtungen zu einer Fülle, in der gegenseitigen Ergänzung und Synthese alles Besten, was im Osten und im Westen ist.

In der Sache der Versöhnung der Kirche sprach Solov’ev Russland eine besondere Rolle zu. In der Dritten Rede zum Gedenken an Dostoevskij (1883) sagte er: "Von Anfang an hat die Vorsehung Russland zwischen dem nichtchristlichen Osten und der westlichen Form des Christentums gestellt, zwischen asiatischen Religionen und Lateinertum...Russland hat zur Genüge seine physischen Kräfte im Kampf mit ihnen gezeigt – jetzt muss es ihnen seine geistig-geistliche Kraft in der Versöhnung zeigen" 2 t. II,S. 316)

So ist das Vermächtnis Solov’evs an Russland.

Wie bekannt, war Solov’ev bis Anfangs der achtziger Jahre eng mit den russischen slavophilen verbunden und teilte ihre Sicht von der ausschließlichen orthodoxen Mission in der christlichen Welt. Solov’ev war teilweise unter dem Einfluss von A. S. Chomjakov, mit dem ihn der Glaube an die mystische Einheit der orthodoxen Kirche und seine "Sobornost" (Katholizität) verband. Indem er diese Idee entwickelte, kam Solov’ev zur Konzeption der "Alleinheit" – dem Eckstein seiner persönlichen Lehre. Nach Meinung Solov’evs stellt die "Alleinheit" die Sphäre des Absoluten, des Göttlichen dar, aber in der Gesellschaft eröffnet sie sich als das gottmenschliche Band oder "die freie Theokratie". Solov’ev kam zu der Folgerung, dass auf historischer Ebene diese freie Theokratie als Resultat der Vereinigung der Westlichen und der Östlichen Kirche aufscheinen kann. Er war überzeugt, dass gerade die Spaltung der Kirche auch zur Trennung zwischen dem Leben der Kirche und des Staates geführt habe; wenn die christliche Einheit innerhalb der Grenzen der Kirche selbst nicht gebrochen wäre, dann würde sie auch wohl ihre höchste Autorität auf Regierung und Gesellschaft ausüben.

Wie Chomjakov verwarf auch Solov’ev die formalen äußeren Kennzeichen der Zugehörigkeit zur Kirche, das einzige Kriterium der Zugehörigkeit sah er in der gegenseitigen Liebe der Christen, der freien Gemeinschaft der Gläubigen, aber nicht in Struktur und Organisation "Die Kirche wird die eine genannt, die heilige, allgemeine (katholische und universale), die apostolische, weil sie eine ist und heilig, weil sie der ganzen Welt gehört, aber nicht irgendeiner Ortsgebundenheit, denn durch sie wird die ganze Menschheit geheiligt und die ganze Erde, und nicht nur irgendein Volk oder ein Land, denn ihr Wesen besteht in der Übereinstimmung und Einheit des Geistes und des Lebens aller ihrer Glieder, in aller Welt, die sie anerkennen, denn schließlich besteht sie in dem, was in der heiligen Schrift und in der apostolischen Lehre die ganze Fülle ihres Glaubens, ihrer Hoffnung, ihrer Liebe ausmacht" (11,S. 7 "die eine Kirche").

In der Lehre Solov’evs vom Gottmenschentum bekam diese Idee eine neue Bedeutung, eine Erweiterung durch den Einfluss eines anderen bedeutenden Denkers, den Solov’ev seinen geistlichen Vater nannte – Nikolaj Feodorovic Fedorov (1829-1903). Die Erstquelle dieser Idee , der Konzeption des Synergismus, d.h. des Zusammenwirkens Gottes und des Menschen, aber kommt von Johannes Cassianus Romanus (ca. 360-435), dem heiligen Bekenner der Einen Ungeteilten Kirche.

Indem er den einseitigen Spiritualismus verwarf, betonte Solov’ev: "Christus bekennen, bedeutet, die Realität seiner Menschheit und der Inkarnation in der irdischen Geschichte anerkennen, die einen neuen Sinn bekommt, die Verkündigung des Reiches Gottes. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt, aber es ist in diese Welt gekommen durch den Gottmenschen Christus und es ist "in uns" und "inmitten von uns" als allgemeine Aufgabe "die Verwirklichung der Fülle der menschlichen Tätigkeit, die durch Christus mit der Fülle der Göttlichkeit verbunden wird".

Solov’ev bekräftigte die schöpferische Aktivität des Christentums nicht nur auf dem Gebiet der Moral, sondern auch der Gesellschaft.; er wandte sich gegen konfessionelle Abschottung, Unduldsamkeit und Formalismus. Die wahre Kirche ist nach Solov’ev die Universale Kirche, die gerufen ist, das echte Bild der gottmenschlichen Einheit zu verwirklichen.

Unter dem Einfluss Hegels versucht Solov’ev in seinem Werk "Philosophische Prinzipien einer ganzheitlichen Erkenntnis" (1877), die Philosophie der Geschichte, die Logik und die Metaphysik in ein synthetisches Ganzes zu bringen. Hier begegnen wir zum ersten mal bei Solov’ev seiner beliebten Triade – der Theosophie, Theurgie und Theokratie. Er entwickelt eine dialektische Methode für eine solche Synthese, welche letztlich der Einheit dienen soll der Einheit in allem, entsprechend dem Gebot Christi zur Einheit der Christen, aber auch zur Versöhnung mit dem Judentum. Dem ist der ausgezeichnete Aufsatz Solov’evs gewidmet "Das Judentum und die christliche Frage" (1884) mit dem tiefen Paradox "wir sind deswegen von den Juden getrennt, weil wir noch nicht voll Christen sind, und sie sind von uns getrennt, weil sie noch nicht voll Juden sind. Denn die Fülle des Christentums umfasst auch das Judentum und die Fülle des Judentums ist das Christentum" (1.t.IV S. 139). Bei all dem weicht Solev’ev nicht ein Jota vom Christentum ab, er unterstreicht dessen universale Fülle und sieht es als neue Stufe der Offenbarung: "Es ist das endgültige Ziel für die Christen und die Juden gleichermaßen, die universale Theokratie, verwirklicht durch göttliches Gesetz in der Welt des Menschen, und dieser Weg ist das Kreuz. Und diesen Kreuzweg konnten die damaligen Juden nicht verstehen, sie suchten Zeichen..."(1 t. IV, S. 156).

Über die Einheit der Kirche begann Solov’ev zum erstenmal am 19. Februar 1883 zu sprechen – in der dritten Rede zum Gedenken an Dostojevskij. In dieser Rede hob er die "universale Feinfühligkeit" der russischen Seele hervor, die Quintessenz der "russischen Idee" von der zu seiner Zeit vor aller Ohren Dostojevskij sprach.

Verstehen bedeutet in gewisser Weise auch rechtfertigen – je nach dem Maß des Verständnisses. So schreibt Solov’ev in der erwähnten Rede: "Die gegenwärtige Aufgabe liegt nicht darin, einfach zu übernehmen, sondern darin, fremde Formen zu verstehen..."(1 t. II, S. 316).

Bei Solov'ev war dieses Maß ohne Zweifel einmalig, vielleicht sogar außergewöhnlich. Darin liegt der Grund seiner Rechtfertigung nicht nur der Anhänger anderer Religionen, sondern mehr noch – auch der Atheisten. In seinem Werk "Das Judentum und die christliche Frage (1884) und im Referat "Über den Verfall des mittelalterlichen Weltbildes" und in anderen Werken spricht er den Gedanken aus, dass die Juden und die Moslime "hartnäckig auf ihren Lehren bestehen", dagegen die Atheisten nur insoweit, als die Christen selbst vom wahren Glauben entfernt sind, weil sie sich nicht von dessen Gesetzen in ihrem Leben leiten lassen.

Darüber kann man natürlich diskutieren , aber sicherlich hat Solov'ev in einem recht: " Die Versöhnung im Wesentlichen ist unumgänglich, das Wesen aber ist die Versöhnung mit Gott, und die wahre Versöhnung besteht darin, dass man sich nicht nach Menschenart sondern ‚nach Gottesart‘ gegenüber seinem Gegner verhält" (2, t II, S. 316).

Ein solches Wohlwollen muss man wohl zuerst einmal denen gegenüber haben, die des gleichen Glaubens sind – gegenüber den Christen der verschiedenen Konfessionen. Bei Solov'ev ist das eine absichtslose Toleranz, die aber nicht prinzipienlos und selbstzufrieden sein darf. Es genügt, die überdachte Beziehung Solov‘evs zu den neuen Dogmatisierungen darzulegen, die von der Römischen Kirche nach der Trennung der Kirche gemacht wurden, und auch seine differenzierte Beziehung zu den Katholiken und zu den Protestanten. Davon zeugt sein Brief an den bekannten Slavophilen Alexander Kirejevskij vom 12. November 1883.

"...Sehr zurecht bringen Sie die Frage der Altkatholiken in den Zusammenhang mit der allgemeineren Frage der "vatikanischen Dogmen". Hier ist auch unser prinzipieller Meinungsunterschied insgesamt. Nach Ihrer Meinung stellen diese ‚neuen‘ Dogmen d. h. die infallibilitas (Unfehlbarkeit) und die immaculata (Unbefleckte Empfängnis), denen Sie auch noch das ""filioque" (aus dem Vater und dem Sohn) hinzufügen, Häresien dar und Sie sprechen dem Katholizismus das Prädikat Kirche im wahren Sinn des Wortes ab. Nach meiner Meinung sind diese Dogmen nicht neu, und keinerlei im Wesentlichen Häresien, und sie beinhalten eine solche auch nicht formell und darum können Sie konsequenterweise auch dem Katholizismus den Charakter einer wahren Kirche nicht absprechen, da ja die wahre Kirchlichkeit nicht vom größerem oder weniger großem Fortschritt in der Entwicklung und Ausformulierung der dogmatischen Einzelheiten besteht, sondern im Stehen in der Apostolischen Überlieferung, in dem rechten Glauben an Christus als des vollkommenen Gottes und des vollkommenen Menschen und endlich in der Fülle der Sakramente.. Das alles findet sich gleichermaßen bei uns und bei den Katholiken, daraus folgt, dass sowohl wir als auch sie zusammen die Eine Heilige Katholische und Apostolische Kirche bilden, unabhängig von unserer historischen und zeitlich begrenzten Spaltung, die nicht der Wahrheit der Sache entspricht und darum um so trauriger ist.

Darum weise ich die von Ihnen beschriebenen Meinung entschieden zurück, dass die universale Kirche eigentlich noch nicht existiert. Im Gegenteil, sie existiert sowohl in der östlichen Orthodoxie wie auch im westlichen Katholizismus. Was aber den Protestantismus betrifft, so gibt seine Geschichte und seine moralische Gleichberechtigung mit der Orthodoxie und dem Katholizismus ihm noch keineswegs das Recht eines eigenen kirchlichen mystischen (sakramentalen) Eigenbereichs. Da diese von der Apostolischen Tradition abgewichen sind, da sie im Bekenntnis der Frömmigkeit nicht gefestigt sind und der Fülle der Sakramente beraubt sind, befinden sich die Protestanten außerhalb der Kirche, so wie wir und die Katholiken in der Kirche sind..."( 7, S. 198).

Im selben Jahr 1883 erschien eine Serie von Aufsätzen Solov’evs mit dem Titel "Der große Streit und die christliche Politik" im Journal "Rus‘" (1883 Nr. 1, 2, 14, 15, 18, 23). Darin untersuchte der Autor die historischen Wurzeln der Spaltung der Kirche als eine zeitlich begrenzte Sünde. Er bekräftigte die These von der Vollkommenheit und Unzertrennbarkeit der Kirche Christi, die mystisch Eine ist. Er war tief überzeugt, dass an der Sünde der Spaltung im Jahre 1054 beide Seiten schuld waren und dass beide dafür einen außergewöhnlich hohen unfreiwilligen Preis zahlen mussten "...Das echte Christentum, das dem Geist des Evangeliums entspricht, ist die Synthese des Ostens und des Westens. Zu dieser Synthese ist auch Russland berufen".

Damals im Jahre 1883 kam ihm auch schon der Gedanke zu dem Buch "Russland und die universale Kirche", das er etwas später verfasste (1887-1889). In diesem Werk tat Solov'ev prinzipiell viel für die Annäherung der orthodoxen und der römisch-katholischen Ekklesiologie. Hier entwickelt er folgerichtig den Gedanken von der geistig-geistlichen Gemeinschaft und der engen Nähe der Westlichen und der Östlichen Kirche: "Wenn die Frömmigkeit wirklich die unterscheidende Eigenschaft unseres nationalen Bewusstseins ist, dann zwingt uns das Faktum, dass die hauptsächlichen Embleme dieser Frömmigkeit bei uns dieselben sind wie im Westen, unsere Solidarität mit ihnen darin anzuerkennen, was wir für wesentlich halten. Was den tiefen Kontrast zwischen der innerlichen Frömmigkeit des Ostens und der tätigen Religion des Westens betrifft, so betrifft dieser subjektive und rein menschliche Kontrast überhaupt nicht die göttlichen Dinge unseres Glaubens und unseres Kultes und dies kann nicht nur nicht zur Bestätigung der Spaltung herangezogen werden, sondern dies müsste um so schneller beide großen Teile der christlichen Welt zusammenführen mit dem Ziel einer gegenseitigen Ergänzung" (5; S. 95).

Man muss hinzufügen, dass Solov'ev verstand: die Annäherung der Kirchen, die gegenseitige Ergänzung des Ostens mit seinen geistlichen Werten und Schätzen und des Westens mit seiner Unabhängigkeit von der staatlichen Macht, kann eine einheitliche und ganzheitliche christliche Kultur hervorbringen. Solov'ev begann, die römisch-katholische Kirche als die führende Hälfte der Universalen Kirche zu sehen, da er den Primat des Römischen Pontifex als Nachfolger des heiligen Apostels Petrus anerkannte.

Das Eintreten Solov’evs zur Verteidigung Roms rief die Angriffe der synodalen Beamten auf den Plan. In der Gesellschaft verbreiteten sich Gerüchte, dass Solov’ev die Absicht habe, General des Jesuitenordens zu werden und die Orthodoxie zum Lateinertum "überzuführen". Dabei betonte Solov'ev immer wieder die Unzulässigkeit einer mechanischen Vereinigung und einer Unterwerfung der einen Kirche unter die andere: "Für die Vereinigung der Kirchen ist dies nicht nur nicht nötig, sondern es wäre jede äußere Union und jede Einzelkonversion schädlich", schrieb er an Archimandrit Antonij Vadkovskij am 29. November 1886 (3, t. III, S. 189.

Die Macht der bürokratischen Zensur hinderte Solov'ev, diese prinzipiell wichtige Untersuchung "Geschichte und Zukunft der Theokratie" in Russland herauszugeben (1885-1887), aber er konnte den ersten Teil dieses Buches in russischer Sprache in Zagreb herausgeben (1877). Für den europäischen Leser gab Solov'ev eine Darlegung seiner fundamentalen Ideen in französischer Sprache in den Werken "L’Idee russe" (Paris 1888) und "La Russie et l’eglise universelle" (Paris 1889).

Das Jahr 1886 bedeutete einen wichtigen Einschnitt im Leben Solov’evs: er befreundete sich mit dem bekannten Bischof der Katholischen Kirche, dem Bischof von Bosnien Joseph-Georg Stroßmayer, dem apostolischen Vikar in Serbien, der Russland flammend liebte, es "heiliges Russland" nannte und die Ansichten Solov’evs über die Vereinigung der Kirchen teilte. Interessant ist, anzumerken, dass auf den Rat von Stroßmayer hin Papst Leo XIII im Jahre 1881 eine Enzyklika herausgab, in der er die beiden Heiligen Kyrill und Method, die Lehrer der Slawen, in das Heiligenverzeichnis der Katholischen Kirche aufnahm. Es gibt einige Gründe dafür, anzunehmen, dass auf Empfehlung von Bischof Stroßmayer Solov'ev eine private (geheime) Audienz bei Papst Leo XIII im Mai 1888 hatte (s. 23, S. 159-160).

Die breite Promemoria Solov’evs über die Bedingungen der Einigung der Kirchen, die er für Papst Leo XIII auf Bitten von Bischof Stroßmayer zusammenstellte, wurde in Djakovo in 10 Exemplaren gedruckt, eines davon wurde an den Papst geschickt, nicht lange vor der geplanten Audienz. (s. 3,t. I, S. 183- 190, französisch). Solov'ev beginnt die Promemoria mit dem Hinweis auf die Weisheit von Leo XIII "den eine alte Prophetie in die Reihe der großen Päpste stellte, mystisch genannt ‚Licht am Himmel‘ (lumen in coelo)". Im folgenden unterstreicht er, dass die Östliche Kirche niemals eine Lehre zum verpflichtenden Dogma erklärt hat (dogme obligatoire), die der katholischen Doktrin entgegen stünde. Die dogmatischen Definitionen der sieben Allgemeinen Konzilien stellen die ganze Einheit der Lehrwahrheiten dar, die absolut ohne Zweifel und die unveränderlich sind, die von der Östlichen Kirche im Ganzen angenommen werden. Alles übrige kann man diskutieren und überdenken, so wie die persönlichen Lehrmeinungen (Theologumena) der einen und der anderen Schule, oder des einen oder anderen Theologen für sich, aber das fällt nicht unter die Autorität der unfehlbaren Lehre. Die Dogmatik der Russischen Kirche, die sich auf die Aussagen der Allgemeinen Konzilien stützt, ist zugleich ganz orthodox und ganz katholisch (orthodoxe et catholique)" (10, S. 255).

Dazu kommt, dass Solov'ev der Einigung von Ferrara-Florenz eine hohe Bedeutung in deren (erfolglosen) Realisierung durch den Moskauer Metropoliten Isidor beimisst. Jetzt aber ist die Einigung der Kirchen, denkt Solov'ev, auf der Anerkennung folgender Bedingungen möglich: Die römische Kirche ist die Romana, aber die Latina ist nur ihr westlicher Teil; nur die Römische, aber nicht die lateinische Kirche, ist die Mutter und Vorsteherin der ganzen Kirche (mater et magistra omnium ecclesiarum). Als römischer Bischof, aber nicht als der Patriarch des Abendlandes, spricht er unfehlbar ex cathedra und man soll nicht vergessen, dass es eine Zeit gab, da er römische Bischof griechisch sprach. Bei der Rückkehr Russlands zur katholischen (universalen) Einheit muss die Russische Kirche nicht nur ihren Ritus behalten (was sich von selbst versteht), sondern auch ihre ganze Autonomie der Organisation und Administration, die der Osten vor der Spaltung besaß. Im besonderen darf auch die hohe Stellung, die in der Östlichen Kirche immer dem Kaiser zukam, nicht angetastet werden ( 10 S. 255).

Angesichts der Tatsache, dass der russische Zar die stärkste staatliche Gewalt auf Erden darstellt und dass die stärkste geistliche Macht der Römische Papst repräsentiert, brachte Vladimir Solov'ev das Projekt einer theokratischen Verbindung von Moskau und Rom vor als Unterpfand einer Unzerstörbarkeit des weltweiten Christentums.

Zum Zweck der Bekräftigung dieses Verbindung reiste Solov'ev oft nach Europa (1886, 1888, 1893, 1898, 1899), suchte Bundesgenossen, aber er fand sie fast nicht – seine Ideen galten als utopisch. Die orthodoxen Brüder waren ihm gegenüber misstrauisch, die Katholiken hielten ihn für einen schöngeistigen Träumer. Solov'ev aber blieb unverrückbar seinen hohen Prinzipien und Idealen treu..

Die Werke Solov’evs in den achtziger und neunziger Jahren, vor allem "Die Geschichte und die Zukunft der Theokratie" (1885 – 1887) und die "Rechtfertigung des Guten" (1897legen überzeugend dar: seine Hoffnung auf die Verwirklichung der sichtbaren Einheit der Kirchen verband Solov'ev von da an nicht mit einem Kompromiss in den Fragen der Glaubenslehre (im Sinne von Abfall vom Glauben) und nicht mit einer kirchlichen Reorganisierung ("Erneuerertum"), sondern er stützte sich ganz auf die Katholizität (Universalität) der Kirche, dass nämlich in ihr im vollen Sinne ausgedrückt wird "die bewusste und offensichtliche Solidarität aller Glieder des universalen Leibes, um das eine absolute Ziel zu verwirklichen unter Aufwendung aller geistlichen Bemühungen". Solov'ev hoffte auf einen "positiven Universalismus" des Christentums, dank dessen, wie er glaubte, die Gegensätze in der Kirche überwunden würden trotz Beibehaltung aller Besonderheiten und Unterschiede.

"Da er brennend an die Wahrheit des Zieles glaubte, das vor der Menschheit steht – schreibt sein Zeitgenosse und Schüler A. Kislova – richtete Solov'ev seine ganze Energie auf die Beseitigungder jahrhundertealten Barrieren aus, trotz der tiefen Enttäuschungen wegen der Haltung der (Russischen) Orthodoxen Kirche, die sich von der ökumenischen Bewegung fernhielt und die sich, wie Solov'ev meinte, zu einem "einfachen Attribut oder Anhängsel der russischen Staatlichkeit" gewandelt hatte. Darum versprach er sich in seinen Plänen einer Errichtung einer "freien Theokratie" mehr von der Verbindung des Römischen Papstes und des russischen Imperators, als von der Russischen Orthodoxen Kirche (59, S. 142).

Nach den Worten von Joseph-Georg Stroßmayer war Papst Leo XIII mit dem Projekt der Errichtung einer "freien Theokratie" bekannt gemacht worden und er habe gesagt: "Eine ausgezeichnete Idee, aber unreell, wenn nicht ein Wunder passiert...". Der bekannte russische Historiker V. O. Kljucevskij nannte Solov'ev den "christlichen Don Chichote". Man muss feststellen, dass dieses ökumenische Wirken Solov’evs zu seiner Zeit keine realen Resultate gebracht hat, seine Initiativen zur Versöhnung der Orthodoxie und des Katholizismus waren der Zeit voraus, wurden nicht angenommen.

Aber das beweist in sich nicht, dass die Ideen Solov’evs ohne Perspektive waren, wie einige Forscher nahelegen. Und auch wir dürfen nicht sagen, dass der russische Philosoph seine Anstrengungen als sinnlos ansah, dass seine Illusionen verwehten, dass seine Ideen zu Staub wurden usw.

Man kann nur eines sagen: Solov'ev begriff wirklich, dass bei beiden Kirchen zurzeit der Wille fehlt, eins zu sein. Aber er hörte bis zum Ende seiner Tage nicht auf, an die heilbringende Kraft der christlichen Einheit zu glauben.

Der Inhalt des Aufrufes Solov’evs ist nach den Worten des katholischen Theologen P. F. Rouleau sehr einfach: "man kann nicht orthodox sein, wenn man nicht katholisch ist, so wie man nicht katholisch sein kann, wenn man nicht orthodox ist" (39, S. 173). Und er zeigte den paradoxen Grund auf, warum der Aufruf Solov’evs sowohl von den Katholiken als von den orthodoxen nicht genügend befolgt wurde: "der äußerste Anspruch (Herausforderung) des Philosophen gegenüber den einen wie den anderen". Vergleiche dazu den Artikel "Das Judentum und die christliche Frage": "Wir sind deswegen von den Juden getrennt, weil wir nicht Christen im Vollsinn sind, und sie sind von uns getrennt, weil sie nicht Juden im Vollsinn sind".

N. F. Fedorov hinterließ uns ein interessantes Zeugnis von der Beziehung Solov’evs zum Katholizismus und zur christlichen Einheit: "Schon Anfang Frühjahr 1889 sprach Solov'ev davon, dass für die Verwirklichung der allgemeinen Sache ( Auferstehung der Toten), eine Zeit von wenigstens 25 oder zehntausend Jahren nötig sei, Voraussetzung dafür sei an erster Stelle eine engere Verbindung, dann eine direkte Einflussnahme auf die Natur; dann brauche es zur Rückkehr Russlands zum Katholizismus oder zur Unterstellung unter den Papst (was er die Einheit der Kirche nennt!) nur 15 Jahre, denn die letzte Sache ziehe er der ersteren vor, von der er sagt, dass sie wohl noch nicht zu seiner Zeit sein wird" (13, S 688).

In seinem bedeutenden Vortrag "Über die Gründe des Verfalls der mittelalterlichen Weltanschauung" (vorgelesen in der Moskauer Psychologischen Gesellschaft am 19. Oktober 1891) betrachtete Solov'ev die Frage des historischen Schicksals des Christentums und seines Standortes im derzeitigen Leben. Er sah in der mittelalterlichen Weltanschauung einen Kompromiss zwischen dem Christentum und dem Heidentum, sowohl im römisch-germanischen Westen als auch im byzantinischen Osten, und kam zu folgenden Schlussfolgerungen: "die Gründe für den Verfall des mittelalterlichen Weltbildes liegen nicht im Christentum, sondern in dessen Verdrehung (Entstellung), doch wurde dieser Verfall für das wahre Christentum keineswegs schlimm..." In diesem Zusammenhang anerkannte Solov'ev die positive Bedeutung der Erfahrung des areligiösen Humanismus.

Ein besonderes Interesse stellt in diesem Zusammenhang heute das Thema des Superökumenismus dar – besonders die Schwierigkeiten der Beziehungen der christlichen Welt mit der Welt des kämpferischen Islam.

In seinem Werk "Der große Streit und die christliche Politik" (1883) ging Solov'ev an das Problem des Islam heran in der Retrospektive der historischen Gegensätzlichkeit des nichtchristlichen Ostens, in seinem traditionellen Gefühl für die Kluft zwischen dem Menschen und Gott, und des christlichen Westens, der diesen Abgrund überbrückt – dank der Inkarnation Gottes und der Idee des Gottmenschentums.

Solov'ev verstand, dass man an den Islam als einer großen monotheistischen (abrahamitischen) Religion nicht herangehen darf so als wäre er eine andere Form des Christentums oder eine jüdische Häresie. Er sah im Islam zu Recht eine selbständige Religion, die den Eckstein des Christentums ablehnt – die Idee der Inkarnation Gottes und seiner Erlösungstat und andererseits auch die Idee der Vereinbarkeit der Freiheit und der Vorherbestimmung durch die Göttliche Vorsehung (dem der islamische Fatalismus widerspricht).

Solov'ev sah das Eindringen des Islam als eine Reaktion des Ostens auf das Faktum, dass zwischen den idealen Darlegungen der christlichen Glaubenslehre und den praktischen Leben in der christlichen Welt ein schreiender Widerspruch besteht. Einen solchen Widerspruch gibt es im Islam nicht, dessen Vorschriften sehr pragmatisch sind: "Die Moslime haben vor uns den Vorteil, dass ihr Leben mit ihrem Glauben übereinstimmt, dass sie nach dem Gesetz ihres Glaubens leben, so dass ihr Leben nicht falsch (lügnerisch) ist, auch wenn ihr Glaube nicht der wahre ist...".

Wenn man Solov'ev recht versteht, dann können wir heute noch etwas feststellen, worin auch eine wichtige Ursache der Spaltung und Feindschaft unter den Christen besteht. Darüber sagt der Koran direkt: "Mit denen, die sich Nazarener nennen (d. h. Christen), haben Wir einen Vertrag gemacht, aber sie vergaßen einen Teil dessen, was sie gelehrt wurden; deswegen haben Wir unter ihnen eine gegenseitige Feindschaft und Neid erweckt bis hin zum Tag der Auferstehung.

Gott zeigt ihnen klar das, was sie verübten" (Koran, Sure V).

Es war für Solov'ev hart, erleben zu müssen, dass er wenig Verständnis vorfand für das Anliegen der Einheit der Kirche und dass er keine realen Fortschritte in diesem Anliegen erleben durfte. Um so stärker war sein inneres Anliegen, "mit beiden Lungenflügeln zu atmen" wie in der Folge Vjaceslav Ivanov treffend ausdrückte und Papst Johannes Paul II diesen Satz wiederholte. Vier Jahre vor seinem Tod empfing Solov’ev die heiligen Sakramente aus der Hand des katholischen Priesters Nikolaj Tolstoj (18. 2. 1896), wobei er dadurch bezeugte, dass er die Spaltung der Kirche nicht anerkennt und dass er der Meinung ist, dass die irdischen Trennwände nicht bis hin zu Gott reichen. Solov’ev trat in die eucharistische Gemeinschaft mit Rom ein, ohne der Orthodoxie abzusagen, dreißig Jahre vor demselben Schritt von Vjaceslav Ivanov ( 2) und vor der Entscheidung des Synods der Russischen Orthodoxen Kirche vom 16. Dezember 1969 über die Wiederherstellung der eucharistischen Gemeinschaft mit den Katholiken (s. Journal des Moskauer Patriarchats 1970 Nr. 1, S. 5) (3). Solov'ev war absolut überzeugt, dass die Orthodoxen und die Katholiken Glieder der einen ungeteilten Kirche Christi sind: "Die Universale Kirche ist im Osten und im Westen anwesend, sie ist das, wodurch der Osten und der Westen geheiligt wird. Die Orthodoxie und der Katholizismus schließen sich nicht aus, sondern sie ergänzen einander. Es gibt keinen prinzipiellen und fundamentalen Grund für Antagonismus zwischen der päpstlichen Einherrschaft und dem synodalen Prinzip der Östlichen Kirche. Das sind Unterschied und Kontrast, aber wesentlich nicht Gegensätzlichkeit. Der Katholizismus verleugnet nicht die synodalen Elemente im allgemeinen, und wir können uns mit dem Katholizismus vereinen, obwohl wir stark an unserer und an der universalen Tradition festhalten" (s. 4, S. 485-486).

Aber diese Vereinigung sah Solov'ev gar nicht als Union von Millionen von Gläubigen, vollzogen von den hierarchischen Vorstehern beider Kirchen, sondern als freie Verbindung einiger weniger (ausgewählter) Seelen. "Nur diese mystische Kirche der Auserwählten widersteht im letzten Kampf mit dem Antichristen. Das Theokratische Programm des Geschehens wandelt sich in ein eschatologisches" (23, S. 185).

Diese Übersicht abschließend, kehren wir zur Bewertung der ökumenischen Ansichten von Solov'ev in Bezug auf die rechtgläubig-katholische Sicht zurück. Julia Nikolajeva Danzas (1879-1942) schreibt in einer kurzen aber treffenden Charakteristik folgendes: "Als er von dem Nebel der slavophilen Ideen sich befreit hatte, ging er (Solov'ev) auf dem Weg, der von ?aaddajev vorgeschlagen war, und er verstand, dass der christliche Universalismus sich schon konkretisiert hat in dem römischen Ideal, das dem russischen Denken einen fast abergläubischen Schrecken einjagte. Deswegen konnte sich Solov'ev nicht von den Resten eines anarchischen Mystizismus befreien...Als Unterscheidungsmerkmal seiner katholischen Überzeugungen, die niemand in Russland ernstlich übernehmen wollte, nahm der "sophiologische" Aspekt des philosophischen und theologischen Erbes Solov’evs einen entscheidenden Einfluss auf das russische Denken" (24, S. 267-268).

Uns scheint, dass die Anerkennung Solov’evs sich heute geändert hat: seine christliche Gnosis, sein "anarchistischer Mystizismus", seine Lehre von der Sophia, der Weisheit Gottes rufen heute sofort eine Reaktion des Widerspruchs hervor – auf jeden Fall bei den Neophyten (Neubekehrten). An die erste Stelle treten gerade die "katholischen" (d.h. universalen) Ansichten des genialen Denkers. Darin liegt seine Bedeutung. Wenn man objektiv das Erbe von Solov'ev analysiert, kann man folgende Beobachtung machen: "Auf welches Gebiet er immer seine gedankenvolle und geistreiche Aufmerksamkeit richtete: auf den Sozialismus oder auf die Lehre von der Revolution, auf die Entwicklung des Altgläubigentums oder auf das Schicksal Russlands – er übernahm davon immer etwas Wertvolles, er verstand, dass nichts auf der Welt fruchtlos und unnütz ist, seine Gedanken gingen immer unter dem Vorzeichen, was er selbst "Alleinheit" nannte" (29, S. 413).

Erzpriester Alexander Men versteht darunter die unvergleichliche Gabe Solov’evs, aufzugreifen, zu berechnen, zu synthetisieren, im realen Leben diesen universalen Geist festzustellen, der die Elemente der Natur, des Menschen und der geistig-geistlichen Welt mit dem höchsten, einen, absoluten Prinzip verbindet – mit Gott. Das Evangelium selbst ist nach Solov'ev die Synthese sowohl des Ostens wie des Westens "Und das Licht, das vom Osten ausgeht, hat den Westen mit dem Osten versöhnt" schrieb Solov‘ev in seinem seiner Gedichte.

Aber seine Gedanken waren tief, schwierig und innerlich widersprechend. In einem anderen Gedicht schrieb Solov'ev prophetisch: "O Russland! Vergiss die vergangene Herrlichkeit: der Doppeladler ist zerstört...und das dritte Rom liegt im Staub, aber ein viertes wird es nicht mehr geben"...

Gegen Ende seines Lebens sah sich Solov'ev gezwungen, die Idee einer theokratischen Gesellschaft in der Gestalt einer orthodox-katholischen Union (eines Konkordats zwischen dem russischen Imperium und dem Vatikan) aufzugeben, wie er es sich früher vorgestellt hatte. Im Geiste einer orthodoxen Eschatologie überwand er die Verlockung zu einem einseitigen Glauben an Theokratie und an humanistischen Fortschritt. Davon zeugt ein Brief an Zar Nikolaus II mit dem Aufruf zur Glaubenstoleranz, geschrieben im Jahre 1896 gleich nach den Krönungsfeierlichkeiten. In seinem Urteil über ihn überwand der Philosoph seine Illusion in der Gestalt, dass er geglaubt hatte, der Allrussische Herrscher kann die Verbindung der Orthodoxie und des Katholizismus herstellen und die Einheit der Kirche verwirklichen.

Im Laufe von vier Jahren schrieb Solov'ev sein letztes und sicherlich prophetisches Buch, in dem er entsprechend der Offenbarung des heiligen Johannes aufzeigte, dass gerade der globale Maßstab einer monarchischen Gewalt der Nährboden für das Kommen des Antichrist sei. Damit warnt Solov'ev seine Nachfolger vor einer Verabsolutierung der monarchischen Gewalt (und Idee) als solcher. Das ist meiner Meinung nach sein letztes Vermächtnis, das schon vom XIX. ins XX. Jahrhundert hinüber führt.

Auch heute warnt uns Solov'ev vor der Gewalt in jeder beliebigen Form, sei es der deutsche Faschismus, der sowjetische Totalitarismus der panamerikanische Globalismus, denn unter ihnen verbirgt sich die Gefahr und die Bedrohung einer "alle Welt vereinenden Macht des Antichrist". Nicht zufällig erscheint in seinem Finale (seinem letzten Werk) "Drei Gespräche" die "Erzählung vom Antichrist", in dem die tiefe Trauer und Bestürzung Solov’evs zum Ausdruck kommt über das Schicksal des europäischen Christentums, dem der "Panmongolismus" droht – die Unterdrückung des von China und vom Islam beherrschten Ostens. Darum betonte Solov'ev mit solcher Kraft und Leidenschaft "dass heute der Friede absolut wichtig sei, wie auch eine aufrichtige Freundschaft unter den europäischen Nationen" .Und das ist auch eines der großen unumgänglichen Vermächtnis Solov’evs für das XXI Jahrhundert.

Und auch wenn unser Philosoph bis zum Ende seiner Tage nicht die Hoffnung verlor, dass durch Gottes Gnade und durch die Anstrengungen der Christen die Einheit zwischen der Östlichen und der Westlichen Kirche hergestellt werden wird, so verlegte er doch diese Herstellung an das Finale der Weltgeschichte (wenn man es von den "Drei Gesprächen" her beurteilt), an die Grenze der historischen Zeit.

Unter den russischen Theologen waren herausragende Persönlichkeiten. Es genügt, den Metropoliten von Sankt Petersburg und Ladoga , Antonij (Vadkovskij 1846-1912) zu nennen. Dieser herausragende Theologe, Doktor der Kirchengeschichte, Ehrenmitglied einiger Geistlicher Akademien war überzeugter Verfechter des Dialoges, der Suche nach Einheit und der Annäherung an die westlichen Christen. Wie Solov'ev war er auch ein Förderer einer ständigen Erneuerung des kirchlichen Lebens durch schöpferische Rückkehr zur Tradition der Einen Ungeteilten Kirche. Wie Solov'ev verlegte auch er seine Perspektiven weit über die Grenzen der Geschichte hinaus – in die Sphäre der eschatologischen Ereignisse.

Bemerkenswert ist, dass dieser Metropolit im Jahre 1901 sich zur Idee von Religiös-philosophischen Versammlungen positiv verhielt und dass er den Segen gab, dass sein Vikar, der spätere Patriarch Sergij (Stragorodskij) auf ihnen den Vorsitz führte. Diese Versammlungen nahmen viele ökumenische Ideen der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts voraus.

Aber der damals aufkommende Ausdruck "Neues religiöses Bewusstsein" war schon früher von Solov’ev formuliert worden. Er hatte gesagt, dass das Wesen des "neuen religiösen Bewusstseins" formuliert werden kann: "Nicht ich beherrsche die Wahrheit, sondern die Wahrheit beherrscht mich". Darüber sagt Vjaceslav Ivanov in seinem Aufsatz "Über die Bedeutung von Vladimir Solov'ev für das Schicksal unseres religiösen Bewusstseins": "das Verständnis vom religiösen Bewusstsein kommt von Solov'ev – wie von ihm ja auch alle anderen Losungen und Formulierungen unserer späteren religiösen Untersuchungen kommen" (16, S. 50).

Wir stellen heute zurecht die Frage des Einflusses der ekklesiologischen Ideen von Solov'ev (besonders des Buches "Russland und die Universale Kirche) auf Metropolit Antonij Vadkovskij und auf andere Theologen der Russischen Orthodoxen Kirche. Es ist bekannt, dass Metropolit Antonij sich sehr bemühte um die Annäherung der Orthodoxen und der Katholiken, vor allem der Altkatholiken, weil ja in diesen Jahren leider der Vatikan auf anderen Positionen verharrte und die Orthodoxen "Schismatiker" nannte. Bei den Verhandlungen mit den Altkatholiken führte Metropolit Antonij den Vorsitz im Jahre 1892, im Jahre 1897 war er im Zentrum der Altkatholiken, in Bonn. (s. 36 Nr. 11-12).

Leider gab es auf dem Gebiet der Einheit keinen spürbaren Fortschritt, da ja auch die westlichen Christen nicht sein Pathos teilten und nicht so stark die Tragödie der Spaltung fühlten wie Solov'ev. Aber all die Anstrengungen von Solov'ev waren nicht fruchtlos – die Stafette wurde ihm buchstäblich von seinen Schülern und Nachfolgern aus der Hand genommen. Zum Aufbau eines russischen ökumenischen Denkens am Anfang des XX. Jahrhunderts hatte eine große Bedeutung "Die Moskauer religiös philosophische Gesellschaft zum Gedächtnis von Vladimir Solov'ev (MPFO), die im November 1905 von Prof. S. N. Bulgakov, Fürst E. N. Trubetskoj, N. A. Berdjajev, L.M Lopatin, G.A. Ra?inskij, A.V. El?aninov, E.P. Zventsanitskij, P. A. Florenskij, V.F. Ern und anderen bedeutenden Persönlichkeiten der russischen Kultur errichtet wurde. (die Gesellschaft wurde von den Bolschewisten im Frühjahr 1918 aufgelöst). An ihr nahmen aber auch Mitglieder der konservativen "Bruderschaft der Aufklärung" (ein Kreis um M.A. Novoselov) teil, sowie Dichter und Publizisten aus dem Kreis der Symbolisten, Gnostiker, Theosophen und Anthroposophen, christliche Sozialisten usw. Die Mehrzahl der Mitglieder dieser solov’evschen Gesellschaft versuchten, seine geistig-geistliche Verbindung mit der orthodoxen kirchlichen Tradition zu erhalten und zu verstärken (4). Die Resultate dieser religiös-philosophischen Untersuchungen gingen, nach den Worten von einem Teilnehmer an den Diskussionen, Feodor Stepun, über das hinaus, was später Karl Jaspers so formulierte: "Das, was wir in mythischen Ausdrücken Seele und Gott nennen, wird in der philosophischen Sprache Existenzialität und Transzendentalität genannt".

Es vergingen einige Jahre. Angesichts der schrecklichen Verfolgungen, die über die Christen im atheistischen Russland der zwanziger und dreißiger Jahre kamen, konnte man unter einigen russischen Theologen eine offene Zuneigung zur katholischen Kirche und zum Katholizismus bemerken. Eine solche Zuneigung erhellt auch in den Werken von Sergij Bulgakov ("An den Mauern von Cherson"), von P. Paul Florenskij ("Christentum und Kultur"), N. O. Losskij ("Über die Einheit der Kirche"). S.L. Frank ("Mit uns ist Gott") (20, S. 167).

Teilweise kann man das aus der Hoffnung erklären, dass die Vereinigung mit der Westlichen Kirche der Russischen Kirche helfen kann, die Krise und die tragischen Folgen der atheistischen Verfolgung zu überwinden. Eine solche Hoffnung war glücklicherweise prinzipiell nicht neu im vaterländischen Denken, sie war verwurzelt im geistig-geistlichen Erbe Solov’evs – er hatte gerade darauf seinen überragenden Einfluss ausgeübt. Es ist bedeutsam, mit welch tiefer Überzeugung und brennendem Pathos "Der Flüchtling", eine der Persönlichkeiten des Dialogs im Werk "An den Mauern des Cherson" seine Treue zur Idee der Einheit der Kirche unter der Führung Roms ausdrückt: "..die Welt wird verändert und sie braucht, damit sie nicht ins Chaos verwandelt wird, ein geistliches Zentrum, die Skala des heiligen Petrus /.../ Für mich öffnete sich der blaue Himmel, weit und offen, und plötzlich fühlte ich ganz stark, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist...es entsteht neues Leben, für dieses gibt es neue geistig-geistliche Kräfte und diese Kräfte erscheinen als Folge einer neuen historischen Selbstbestimmung, das heißt der Vereinigung mit der Römischen Kirche und der Vereinigung mit der ganzen christlichen Kirche" (20, S. 332-333).

Ja die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Fast ein halbe s Jahrhundert nach dem Tod von Solov'ev ist die ökumenische Bewegung nicht nur aufgetaucht, sondern sie tat wichtige Schritte im Blick auf die gesamtchristliche Verständigung und Einheit – im Jahre 1948 wurde der Weltrat der Kirchen gegründet.

Nach dem Eintritt der Russischen Orthodoxen Kirche in den Weltkirchenrat im Jahre 1961 und der gegenseitigen Aktivierung der ökumenischen Kontakte hat sich das Interesse für das Erbe Solov'evs in den offiziellen Editionen des Moskauer Patriarchats erheblich verstärkt. Man braucht nur an einige Arbeiten zu erinnern (5), darunter die Magisterdissertation von Vladimir Sabodan, Rektor der Moskauer Geistlichen Akademie (jetzt Metropolit von Kiew, Exarch der Ukraine) mit dem Titel: "Die Ekklesiologie in der russischen Theologie im Zusammenhang mit der ökumenischen Bewegung". Erzbischof Vladimir schrieb in diesen Jahren mit einer augenscheinlichen Sympathie und in offenem Mitfühlen mit den Ideen von Solov'ev: "Ausgehend von tiefen Antrieben sieht Solov’ev die eine Kirche und legt die Idee der Vereinigung der Orthodoxen und der Katholischen Kirche vor. Solov'ev hatte die starke Intuition der Einheit des kirchlichen Leibes. Er hatte das tiefe uranfängliche Gefühl der Universalität des Christentums. Solov'ev litt am Schmerz der kirchlichen Spaltung. Es zog ihn zum frischen, freien Geist einer universalen kirchlichen Brüderlichkeit...In diesem Sinne kann man ihn den hervorragendsten Tätigen des Ökumenismus des XIX. Jahrhunderts nennen" (35, S 165).

Die Erfolge des theologischen Dialogs und eine seriöse Annäherung der Römisch-katholischen Kirche und der Russischen Kirche in den sechziger und siebziger Jahren waren vor allem möglich dank des Papstes Paul VI. und des Patriarchen Alexej I. (Simanskij), aber auch dank ander Hierarchen beider Kirchen – Kardinal Willebrands und Kardinal Tisserant, Metropolit Nikodim (Rotov) und anderer. In diesen Jahren zeigte sich, dass die Jahrhunderte währende Entfremdung beider Kirchen schließlich überwunden wird, sie nähern sich wirklich einander an und die erhoffte Einheit liegt nicht hinter den Bergen... Die starke Überzeugung von Vladimir Sabodan, die darin liegt, dass sich Orthodoxie und Katholizismus nicht gegenseitig ausschließen, sondern einander ergänzen und dass ihre Gegensätzlichkeit nicht aus ihrem Wesen kommt, sondern nur ein "zeitweiliges historisches Faktum" ist, erhielt seine glänzende Bestätigung in einer ganzen Reihe von theologischen Gesprächen mit Teilnehmern des Vatikan einerseits und von Konstantinopel und Moskau andererseits.

Nach der Aufhebung der gegenseitigen Anathematisierung und der Versöhnung der Kirchen im Jahre 1967 unter Papst Paul VI. und dem Patriarchen von Konstantinopel Athenagoras I. ist schon eines der Vermächtnisse Solov’evs im XX. Jahrhundert erfüllt.

Das II. Vatikanische Konzil wurde ein Faktor des Umschwungs in den gegenseitigen Beziehungen zwischen den westlichen und den östlichen Christen, denn auf dem Konzil wurde festgestellt: Ausgangspunkt im zwischenchristlichen Dialog ist die Bestätigung der Orthodoxen Kirche als "Schwesterkirche", verwandt im Geist, was jede Art von Proselytismus und Expansion ausschließt" (s. 52). Die Orthodoxen sind nun nicht mehr Schismatiker und sie dringen zu recht darauf, dass die Katholiken die Bestimmungen des II. Vatikanischen Konzils einhalten (52, S.7).

Mons. Albert Rauch stellt fest, dass das russische orthodoxe Denken auf die Theologie des II. Vatikanischen Konzils großen Einfluss genommen hat, vorbereitet in Paris, wo die Werke der orthodoxen Theologen des St. Sergius-Instituts, darunter vor allem die Werke von Sergij Bulgakov, Einfluss genommen hatten auf die später zu Kardinälen erhobenen Konzilstheologen Ives Congard, Henry de Lubac, Jean Danielou und Hans Urs von Balthasar und auf die "nouvelle théologie" in Frankreich (53, S. 107).

Hier muss man unbedingt hinzufügen und unterstreichen: In seiner ekklesiologischen Entwicklung, durch Aneignung der Ideen von der christlichen Einheit, wurde Sergij Bulgakov, wie auch viele andere Lehrer am Institut St. Serge in Paris inspiriert durch das ökumenische Pathos Vladimir Solov'evs. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Sammlung "Christliche Vereinigung. Das ökumenische Thema im orthodoxen Bewusstsein" (Paris YMCA-PRESS, 1933), in das Werke eingingen von Erzpriester Sergij Bulgakov, des Erzbischofs von Geliopolis Gennadios (Kirche von Konstantinopel), des Metropoliten der Bukovina Nekarij, von H: A. Berdjajev, A.V. Kartašev, des Protopresbyters Stefan Zankov (Bulgarien), von Hamilkar Alevisatos (Athen), von V. V. Zenkovskij.

Man kann nur bedauern, dass Solov'ev nicht das II: Vatikanische Konzil erlebte, nicht Zeuge wurde der absichtslosen ökumenischen Schritte der römischen Päpste – Johannes XXIII., Paul VI. und Johannes Paul II. zur Annäherung mit den Orthodoxen; es könnte sein, dass er dann wirklich die Worte Simeons wiederholt hätte: "nun entlassest du; Herr, deinen Diener..." Leider kann man heute in Russland eine offensichtliche Abwendung vom Ökumenismus bemerken – als eine Folge der allgemeinen zentrifugalen Kräfte in der Gesellschaft und der Bedingungen der Dezentralisierung nach dem Verfall des letzten Imperiums, welches die Sowjetunion wirklich war. Und sowohl an den Rändern wie auch im Zentrum des ehemaligen Imperiums erstarkten merklich Nationalismus und Obskurantismus in den kirchlichen Institutionen. Als Resultat dieser negativen Erscheinungen werden wir Zeugen davon, dass "ein bedeutender Teil von Christen die ökumenische Bewegung als solche ablehnt" (65, S. 22).

In vielen Unternehmungen (Unio, Interkommunion, Weltkirchenrat und andere ähnliche Strukturen, Ökumenismus von oben, äußerer Ökumenismus, interreligiöser Dialog, gemeinsame Angst vor Globalisierung und Säkularisierung usw.) erscheint oft nur ein "äußerlicher Ökumenismus". Aber auch die Interkommunion, die Solov'ev und einige andere praktizierten, löst nicht alle Probleme, sondern bezieht sich nur auf einen wenn auch äußerst wichtigen Aspekt des kirchlichen Lebens.

Der neue Ökumenismus – sagt P. Johann Sviridov – muss sich auf der Antinomie aufbauen: Absage von einer "Einigung" und Absage von "Gegensätzlichkeit". "Auf der Weite dieser Antinomie – schließt P. Johann Sviridov – kann und muss ein neuer Typ von Ökumenismus entstehen. Aber dieser kommt nicht ohne uns, den Christen verschiedener Traditionen, die die Zerschlagung des alten Ökumenismus überlebt haben und schon deswegen aufgerufen sind, über neue Wege zur christlichen Einheit nachzudenken" (65, S. 34).

Wenn wir im Licht des ideellen Erbes Solov’evs die derzeitigen russischen Probleme beachten, müssen wir zu Recht die Frage stellen: wie hängen mit der heutigen Realität in Russland die prophetischen Ansichten, seine Vorausschau und Prophezeiung zusammen?

Einer der heutigen Forscher zieht folgenden Schluss: "Die drei von Solov'ev postulierten Formen der gesellschaftlichen Autorität - der staatlichen, der geistlichen und der allgemein kulturellen – sind die Summe der absolut notwendigen und sich gegenseitig bedingenden Formen" (49, S. 72), das heißt sie können einander nicht austauschen, sie sind selbständig, zwischen ihnen ist keine organische Einheit. Solov’evs westliche Ausrichtung in diesem Aspekt ist wirklich notwendig.

Der Autor des im zitierten Aufsatz aufgezeigten Gedankens E. B. Raškovskij, berührt leider nicht die ökumenische Problematik. Es scheint uns aber, dass gerade im Kontext der gesamtchristlichen Einheit "gegenseitige Konvertierbarkeit" möglich ist. Solov'ev hat das gut verstanden. Er fühlte auch die Krise und den geistig-geistlichen Verfall am Ende des XX., Anfang des XXI. Jahrhunderts voraus. "Am Ende des zweiten und am Anfang des dritten christlichen Jahrtausends befindet sich der aufgeklärte Westen vor einem weit vorher schon erwartetem Bild: Das Christentum ist nicht mehr seine geistig-geistliche Dominante", sagt Arkadij Rovner (62, S.5).

Es fällt uns psychologisch schwer, sich mit dieser Behauptung (besser gesagt mit dieser Negierung) einverstanden zu erklären. Aber leider hat Prof. Rovner recht. Wie anders könnte man den augenscheinlichen Verfall – nicht nur im heutigen Russland – auf der Ebene der Moral und der Kultur erklären?

Es wird immer klarer, dass einer der Gründe dieser Krise das sich nicht Erinnern und nicht Erfüllen des Vermächtnisses von Solov’ev ist, seines hauptsächlichen Aufrufes zur unumgänglichen christlichen Solidarität und Einheit. Eine solche Einheit kann nicht ohne geistig-geistliche Erleuchtung sein, zu der Arkadij Rovner aufruft; nur kann letztere nicht mystische Voraussetzung und unumgängliches Mittel zur Einheit sein.

"Das universale Geistesstreben von Vladimir Solov'ev ist mehr, als irgendwann, in unseren Tagen – unterstreicht Prof. Nikita Struve – nötig, da die äußerliche, oberflächliche, materialistische Vereinigung der Menschheit zu sehr bei den Gläubigen gleichnamig ist mit Abfall, Sektierertum, kulturellem Verfall, Akosmismus, Erniedrigung des ‚Großen Geheimnisses der Frömmigkeit‘ zu zweitrangiger Bedeutung". (66, S. 4).

Manche der Ideen Solov’evs sind sicherlich heute nach all dem, was geschehen ist, überholt: z. B. das russische Zarentum. Es formiert sich eine vielpolare Welt, in der Russland in ökonomischer Beziehung einen ziemlich kleinen Platz einnimmt. Aber auch heute ist, ein Gnadengeschenk Gottes, das mächtigste geistliche Zentrum im Westen – in Rom. Und auch heute ist (und wird es bis zum Ende der Welt sein) Moskau das mächtigste Weltzentrum der Orthodoxie. Darum bleibt der Hauptauftrag Solov’evs bezüglich der Einheit des Christentums der unvergängliche Stern erster Größe. Weiterhin bleibt das das hauptsächlichste Vermächtnis Solov’evs. Heute klingen manche der Ideen Solov’evs unerwartet aktuell, fruchtbar nicht nur für die theologische Sphäre, sondern auch für die soziale, kulturelle bis hin zur christlichen Politik – sie sind wie ein Vermächtnis des genialen Denkers, gleichbedeutend groß für den Osten wie für den Westen.

Außerdem ist "die Aufgabe Russlands eine christliche Aufgabe, und die russische Politik muss eine christliche Politik sein" (1, t. V, S. 20), wie Solov'ev lehrte.

Ist das möglich?

Das ist nur möglich auf den Wegen einer ganz christlichen Theokratie und nicht einer imitierten (reanimierten) Pseudomonarchie.

Eine wirklich gottgefällige (d. h. theokratische) Monarchie war leider niemals in Russland; in idealer Form wäre sie nur möglich auf der Grundlage der Überwindung der nationalen Enge und der Offenheit zum universalen Christentum.

Für uns bleibt das letzte Vermächtnis Solov’evs äußerst kostbar, das er uns in den "Drei Gesprächen" hinterlassen hat:

"In nächster Zukunft sehe ich die Annäherung und die friedliche Zusammenarbeit aller christlichen Völker und Staaten nicht nur möglich, sondern auch unumgänglich und als den moralisch verpflichtenden Weg der Rettung der christlichen Welt vor dem Verschlungenwerden durch niedere Elemente" (1, t. VIII, S. 90).

Ist das die Stimme eines Rufenden in der Wüste? Solov'ev gab eine Antwort, welche seinen Scharfblick und seine Weisheit offenbart: "...die Sache der Vereinigung der Kirchen ist für Russland eine sehr große Anstrengung, die innere Selbstüberwindung erfordert, noch größere als die, die vor zwei Jahrhunderten erforderlich war zur Annäherung Russland an die weltliche Zivilisation des Westens ..." (4, S. 104)