OKI-Logo Symposion über
Vladimir Solov’ev




Viktoria Rovner
Moskau

Gnoseologie ganzheitlichen Erkennens
bei I. Kirejevskij und Vl. Solov’ev

Die Namen der Verfasser von "Philosophie der neuen Prinzipien" oder "Philosophie des gläubigen Verstandes", I. Kirejevskij und von Vladimir Solov’ev, der spekulativ die "Philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wissens" ausarbeitete, können nebeneinander gestellt werden als Namen von Gründern einer neuen Gnoseologie. Für beide gilt die Charakteristik, die Sergij Trubetskoj vorlegte, der von Vladimir Solov’ev sagte: "Die Grundidee, die seine Metaphysik, seine Ethik und seine Ästhetik prägte..., seine Publizistik, ist die religiöse christliche Idee". Und da ist die Rede nicht nur davon, dass ihre Namen in einer Reihe stehen mit so großen christlichen Philosophen wie Maximus der Bekenner, Schelling, Baader, sondern weiter davon, was sie unterscheidet. Wir können häufig wesentliche Parallelen und gemeinsame Gesichtspunkte sehen, insoweit als "das lebendige Prinzip Ihrer Überlegungen die fundamentale Idee des Christentums war – die Idee vom Gottmenschentum. Darum ist die differentia specifica der spekulativen Philosophie Solov’evs seine "ganzheitliche Welt", verstanden als "Abbild der weiblichen Schönheit" – die Idee der Offenbarung der "Glorreichen Jungfrau", der "Trägerin der Geheimnisse der Göttlichen Ratschlüsse". Diese stellt sich bei Kirejevskij vor als vollkommene Seele, die die "lebendigen Wahrheiten des Christentums" inkarniert, wie es für ihn seine tief gläubige Frau war, die ihm praktisch die Augen geöffnet hatte für den intellektuellen Reichtum der Welt der patristischen Überlieferung.

Wir unterscheiden die fundamentalen Standpunkte in der Erstellung von neuen gnoseologischen Paradigmen, wie sie von Kirejevskij formuliert wurden.

  1. Eine große Unzufriedenheit mit dem westeuropäischen Rationalismus, mit den westlichen philosophischen Systemen der "Absoluten Prinzipien".
  2. Die Feststellung einer verderblichen Trennung von Verstand und Glaube. Aufzeigen der "kranken Widersprüchlichkeit zwischen Verstand und Glaube, zwischen inneren Überzeugungen und äußerem Leben" (1,270).
  3. Die Anerkennung der Notwendigkeit der Vereinigung "in ein Ganzes aller geistig-geistlichen Kräfte" (des Verstandes, des Gefühls, des ästhetischen Denkens, des Gewissens und des aufrichtigen Strebens nach Wahrheit).
  4. Das Streben nicht nach einer mechanischen, sondern nach einer organischen Synthese, ausgehend von der Eignung des Denkens "das sich zur Vereinbarkeit mit dem Glauben erheben kann" (1,249).
  5. Das Verstehen des Glaubens (und der Offenbarung) als "höchster Rationalität, die für den Verstand lebensschaffend ist" (1,250).
  6. Die Bekräftigung der meta-logischen Prinzipien des Wissens und des Seins. Übergang der Gnoseologie zur Ontologie.
  7. Die Ausarbeitung einer positiven Philosophie. Der Aufbau eines neuen Systems des Wissens, das auf der trinitarischen Logik aufgebaut ist.

28 Jahre nach dem Erscheinen des Aufsatzes von Kirejevskij "Über die Unumgänglichkeit und die Möglichkeit neuer Prinzipien für die Philosophie" in "Russkaja Beseda", die praktisch die Einführung in sein großes philosophisches Werk darstellte, schreibt Solov’ev im Herbst 1874 in seiner Magisterdissertation – seiner ersten Arbeit, die den neuen Fundamenten des Wissens gewidmet ist, in Anlehnung an Kirejevskij: " Die Philosophie im Sinne einer ausschließlich theoretischen Erkenntnis hat ihre Entwicklung beendet und diese ist unwiederkehrbar in die Zukunft eingetreten" ("Die Krise der westlichen Philosophie, S. s. t. I,26).

Kirejevskij folgend betrachtete Solov’ev die neue westliche Philosophie nur als ein "reflektierendes Bewusstsein" und konstatiert eine Einseitigkeit und darum eine Unrichtigkeit beider Formen des philosophischen Erkennens: sowohl des rein rationalistischen, das nur eine "mögliche Erkenntnis" zugibt, als auch des rein empirischen, dem Solov’ev das Recht auf wahre Erkenntnis absprach. Hier sehen wir dieselbe harte Kritik an der Ratio, wie sie auch für Kirejevskij charakteristisch ist: "Der Verstand, welcher...nur die rationalen Elemente abstrahiert und die quantitativen und qualitativen Bestimmtheiten, die Beziehungen in Raum und Zeit, ist arm, einseitig und er gerät auf ein Abstellgleis". "Die Westeuropäische Zivilisation – stellt Kirejevskij weiter fest – anerkennt als wirkliche Erkenntnis nur die durch den Verstand erfahrbare", darin zeigt er auf, dass die einen Denker auf dem Weg der formalen Abstraktion – Rationalismus, die anderen in der Abstraktion des Erfahrbaren – Positivismus stehen bleiben. Im gesellschaftlichen Leben fand er, dass diese Tendenzen im logischen System des römischen Rechts ausgedrückt sind ("Der Charakter der europäischen Zivilisation", t.1,111).

So wurden das Verständnis des wahren und die des westlichen Erkennens aufgezeigt und es wurde daraus eine Ausgangsgsposition eines neuen Paradigmas des Denkens. Der Bereich der Gegensätzlichkeit wurde als die Gegensätzlichkeit zum abstrakten ausgearbeitet Rationalismus definiert.

Solov’ev seinerseits verwarf die totale Kritik des Rationalismus in allen Spektren. Er war überzeugt davon, dass die rationale Philosophie die "höchste Form des menschlichen Denkens" ist und dass sie die Fähigkeit hat, "den höchsten Fragen des theoretischen Verstandes" Genüge zu leisten. In voller terminologischer Einheit schreibt er über den abstrakten Rationalismus, in dem er mit seinem ihm eigenen Scharfsinn klar den dogmatischen, den kritischen und den absoluten Rationalismus unterscheidet. In diesem dynamischen Modell sieht er eine Bewegung, oder Stufen, die von den niederen Formen der Erkenntnis zu höheren führen, und die in sich die Möglichkeit tragen, aus den Grenzen des Rationalismus selbst herauszukommen.

  1. Den dogmatischen Rationalismus hält Solov’ev für die niedrigste Form des Denkens "wenn die objektive Bedeutung des Verstandes direkt vorgestellt wird als etwas Gegebenes und durch sich selbst Einsichtiges, und so werden die Wahrheiten des Verstandes entwickelt als die Wahrheiten der Dinge (logische Wahrheiten wie ontologische). "Aber bei diesem Dogmatismus kann selbst der Verstand nicht stehen bleiben", folgert der Philosoph. "Da der dogmatische Rationalismus alles aus einem Prinzip ableiten will und nicht aus der Wirklichkeit, wird er unweigerlich zum kritischen Rationalismus".
  2. Im Bezug auf den kritischen Rationalismus, der vor allem in Verbindung gebracht wird mit dem Namen von Kant, schreibt Solov’ev: "Der Verstand selbst erforscht seine Erkenntniskräfte und unterwirft seiner Kritik die vorgestellte Fähigkeit, das Wesen der äußeren Dinge zu erfassen (t.1,267). Er teilt die Faktoren einer solchen Erkenntnis in zwei:
  1. Ein empirischer, der in sich die "gegebenen Erfahrungen einschließt, die die ganze reale Summe der Erkenntnis in sich ausmachen".
  2. Ein rationalistischer, der in sich die apriorischen Formen und Gesetze unseres Verstandes einschließt, wie 1. Die Kategorien von Raum und Zeit. 2. Die Kategorien der Vernunft und 3. Die Ideen des Verstandes. Solov’ev sieht keine "inneren Formen der Verbindung" zwischen den zwei "Wurzelfaktoren unserer Erkenntnis, die selbstverständlich im Kontext des Rationalismus voneinander selbständig sind. Er schreibt, dass hier die Vernünftigkeit oder die Alleinheit nur ein formales Prinzip ist, das nur die Notwenigkeit ausdrückt oder die verstandesmäßige Notwendigkeit nur auf den Verstand hin führt". Die strenge Dialektik Solov’ev s sieht keine Möglichkeit "einer gegenseitigen Unabhängigkeit seiner beiden wechselseitigen Faktoren".
  1. Der absolute Rationalismus, oder Panlogismus, der den Inhalt der wahren Erkenntnis auf die Kategorien des Verstandes beschränkt und von "der Überzeugung ausgeht, dass alles nur im Denken Wirklichkeit besitzt". Bei einer solchen Position ist das denkende Subjekt selbst eines von den zu Verstehenden, schließt Solov’ev: "alles ist reines Verstehen, d. h. Verstehen ohne einen Verstehenden und Verstandenen, Gedanke ohne Denkenden und Gedachtem, alles existiert actu puro, in reiner Gleichgültigkeit, ähnlich dem Nichtsein" (t.4,272). Solov’ev unterwirft die Position eines absoluten Rationalismus einem strengen Gericht, er nennt ihn kolossale Häßlichkeit, unumgänglich für einen abstrakten Rationalismus, der als einziges Prinzip den Verstand in sich anerkennt, das heißt eine leere Form der Wahrheit, abstrakt genommen" (268).

Hinter dieser Position erkennt man ohne weiteres Kirejevskij mit seiner unversöhnlichen Haltung zum Rationalismus und dem scharfen Widerwillen, den abstrakten und logischen Verstand "als einziges Organ der Erkenntnis der Wahrheit" anzuerkennen" (K.1,249).

Hier wird wie bei Kirejevskij das Verständnis von Wissen und Wahrheit erleuchtet. Kirejevskij spricht von Stufen der Erkenntnis, die von der rationalistischen Erkenntnis nach oben führen " so wie der denkende Mensch sein Wissen durch das logische Joch vorwärts tragen muss, so muss er wenigstens wissen, dass das dann nicht der Gipfel des Wissens ist, sondern dass da noch eine Stufe ist" (Brief an Chomjakov 1840, t. 1,67). Auch Solov’ev teilt mit Kirejevskij dieses Verständnis von den Stufen der Erkenntnis und er spricht von der unumgänglichen Bewegung in Richtung "der höheren Formen des menschlichen Denkens" als die Formen der Manifestation der Bemühungen, den "höheren Fragen des theoretischen Verstandes Genüge zu tun", was Kirejevskij definiert als die Erhebung der Wahrheit "der ihr natürlichen Beziehungen zum Geistig-geistlichem", als die Erhebung des Verstandes "zur geistig-geistlichen Schau", zum "geistig-geistlichen Wissen", zum "hyper-logischem Wissen" zu "meta-logischen Prinzipien", zu "höherer Vernünftigkeit", zur wesentlichen "Gemeinschaft mit den Göttlichen Dingen", das sind nach Kirejevskij die Attribute der in Bezug zum westlichen Rationalismus, höheren Formen der Erkenntnis. Die Quelle dieser Erkenntnis sieht er in der Erhöhung der "Fähigkeit des Denkens" bis zur einfühlenden Übereinstimmung mit dem Glauben (1,249).

Wenn er von der Fähigkeit der Erkenntnis spricht, die "den höchsten Fragen des theoretischen Verstandes" entsprechen kann, stellt Solov’ev der "formalen Rationalität", der "leeren Form der Wahrheit, abstrakt genommen", die "wahre Erkenntnis" gegenüber und er bekräftigt die Glaubwürdigkeit der metaphysischen Erkenntnis. Dabei wird er ein glänzender und scharfsinniger Apologet jener höheren gnoseologischen Realität, jener neuen Form der positiven Erkenntnis, deren mutiger Vorherverkünder Kirejevskij war.

Solov’ev grenzt aber sein dargelegtes System der Verteidigung der rationalen Erkenntnis von der metaphysischen ab, indem er verschiedene Formen des gnoseologischen Skeptizismus untersucht, die aus rationalistischen "Vorurteilen" hervorgegangen sind (t.4.294): der empirische Skeptizismus und der transzendentale Skeptizismus, in dem er eine metaphysische Erkenntnis verteidigt (t.1, 343). In dieser Analyse artikulierte er besonders auch die Qualität der "Meinungsverschiedenheit und Widersprüchlichkeit" (K.t.1,249), die im rationalistischen Denken vorherrscht.

Den empirischen Skeptizismus nennt er populär oder scholastisch. Er baut auf der Konstituierung der Beschränktheit des menschlichen Verstandes auf, wodurch ihm natürlicherweise keine Fähigkeit zur metaphysischen Erkenntnis zukommt, d. h. er baut auf der Behauptung, auf, die sich selbst aus der Behauptung ergibt, dass die metaphysische Erkenntnis begrenzt ist.

Im transzendentalen Skeptizismus, den Solov’ev auf das skeptische System Kants zurückführt, sieht er drei Typen.

  1. Wenn man das "Ding an sich" zum Gegenstand hat.
  2. Wenn man zum Ausgangspunkt das erkennende Subjekt hat.
  3. Wenn man die Wirklichkeit der Natur des Denkens selbst anzweifelt.

Die Argumentation aller drei Aspekte des Skeptizismus sieht Solov’ev als eine Voreingenommenheit, die auf petitiones principii aufbaut, auf die Zerrissenheit der Weltkarte und der Sicht der Erscheinungen in ihrer Spaltung und Zertrennung – in ihrer gewaltsamen Trennung von der Natur des Seins. "Wenn sie sagen, dass wir nur die Erscheinungen annehmen können und nicht das Wesen in sich, so setzen sie die absolute Trennung des einen vom anderen voraus, und sie lassen keinerlei Gemeinsamkeit zu". Diese Behauptung sah Solov’ev "jeder Begründung entbehrend" (344).

Solov’ev zeigt auf, dass die Behauptung, dass man nicht "das Sein an sich" erkennen könne, von Natur aus nicht bestehen kann, da sie "eine absolute Getrenntheit" zwischen den Erscheinungsformen und dem Wesen voraussetzt und nicht eine "unumgängliche Beziehung" sieht zwischen dem phänomenalen Sein und dem "wahren Sein". Das Metaphysische Sein, definiert als der "absolute Grund aller Erscheinungen" kann nicht als "Ding an sich" gedacht werden – schreibt der Philosoph – mit ihm wird auch schon eine besondere Beziehung zu einem anderen behauptet und eine besondere und komplizierte, und man muss sie als "als die wirksame Ursache der wirklichen Erscheinungsformen in all ihrer unendlichen Vielgestaltigkeit sehen" (S. 343). Dass man eine metaphysische Erkenntnis haben kann – wird von unserem Philosophen behauptet – liegt daran, dass es zwischen der phänomenalen und der metaphysischen Welt eine "bestimmte Entsprechung" gibt (S. 343). Solov’ev kommt zur Begründung "jeder wirklichen Erkenntnis , sowohl der physischen wie der metaphysischen" als einer Erkenntnis des Wesens in ihren Erscheinungen, wenn auch in verschiedener Fülle des aufgefundenen Seins.

In Antwort auf die zweite Sicht des "skeptischen Arguments" über die Vorgegebenheit unserer Formen und der Kategorie der Erkenntnis, die eine "Erkenntnis vom Sein selbst" nicht möglich macht, zeigt Solov’ev dieselbe metaphysische Durchschau. Als Zusatz zur augenscheinlichen Behauptung Kants darüber, dass die "metaphysische Wesenheit nicht durch unsere aktuellen Raum und unsere Zeit begrenzt wird", zieht Solov’ev folgenden Schluss "die allgemeinste Definition des metaphysischen Wesens muss dazu führen, dass sie ...alle relativen Formen unserer Welt beinhaltet". (t.2,346).

Entsprechend der dritten Sicht des "skeptischen Arguments" ist aller Inhalt unserer Erkenntnis zu den Vorstellungen unseres Bewusstseins, und soweit ein metaphysisches Wesen nicht unsere Vorstellung allein sein kann, ist sie für uns nicht erkennbar. Solov’ev stützt sich auf das augenscheinliche Faktum: "Es unterliegt keinerlei Zweifel, dass wir nur mit unseren eigenen Vorstellungen erkennen können oder nach dem Stand unseres Bewusstseins" – "diese unsere Vorstellungen stellen neben ihrem Subjekt auch die objektiven Gründe dar und sie selbst sind nichts anderes als nur die Erkennbarkeit dieser Ursache". Solov’ev schreibt: Die Erscheinung kann allgemein nicht allein für sich sein, sondern sie ist unweigerlich eine Erscheinung des Seienden".